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Die polnisch-ukrainische Grenze hat eine ganz besondere Bedeutung. Denn der Zaun trennt nicht nur Länder, er trennt Welten.

© Agnieszka Hreczuk

Krise belastet enge Beziehung der Nachbarn: Zerreißprobe für Ostpolen und Westukrainer

Ostpolen und Westukrainer sind enge Nachbarn. Ähnliche Sprache, kleiner Grenzverkehr, viele Eheschließungen. Doch der Brüssel-Kiewer Doppelwahlsonntag spaltet sie. Vom Leben an der Wohlstandsgrenze.

Der junge Arzt hat sich gerade auf einen Holzstuhl gesetzt. Er hat die Brille abgenommen und reibt sich die Augen. Er ist müde. Zehn Stunden Dienst hat er schon hinter sich, 14 sollen noch folgen. Er wollte sich gerade eine kurze Pause gönnen. Doch das Handy klingelt in der Hosentasche.

Sylwester Grabas, 30, seufzt leise, steht auf und nimmt den Anruf ab. Er hört kurz zu, was am anderen Ende der Leitung gesagt wird, und antwortet auf Ukrainisch: „Dobre, ja skora pryjdu.“ Gut, ich komme gleich, auf Deutsch. Grabas setzt die Brille wieder auf, schließt die Tür und läuft durch den mit Neonlampen beleuchteten Korridor im Landeskrankenhaus von Przemysl.

Der Patient, der auf ihn wartet, ist ein Ukrainer. Ein junger Mann, der im Februar auf dem Maidan in Kiew protestiert hat und dabei verletzt wurde. Hier in Przemysl haben sie ihn behandelt. Jenseits der Grenze. Przemysl liegt in Polen.

Sie waren sich so nah in jenen Tagen, die Ostpolen und die Westukrainer, als in der ukrainischen Hauptstadt Barrikaden brannten und Menschen mit dem Ruf nach Freiheit gegen das Regime ihres Präsidenten Janukowitsch anrannten, die dabei ihr Leben riskierten. Denn irgendwann wurde geschossen und zurückgeschossen.

So nah wie lange nicht.

In Przemysl im Südosten Polens wurden auch Ukrainer behandelt, die bei den Protesten auf dem Maidan verletzt wurden.
In Przemysl im Südosten Polens wurden auch Ukrainer behandelt, die bei den Protesten auf dem Maidan verletzt wurden.

© dpa

Viele Menschen in Przemysl nahmen es persönlich, was in Kiew geschah, viel persönlicher als die in Warschau, weil es oft persönlich war: Viele der Polen in Przemysl sind – wie auch Grabas – ukrainischer Abstammung. Die offiziell anerkannte ukrainische Minderheit in der Umgebung umfasst geschätzte 10.000 Menschen. Die Sprachen sind ähnlich, und so haben sich in jüngerer Zeit viele Ukrainer anstrengungslos in der Stadt angesiedelt, viele polnisch-ukrainische Ehepaare leben hier. Es gibt eine ukrainische Schule in Przemysl, auf deren Flur steht eine Tafel mit Fotos der Maidan-Opfer.

Eine seltsame Mischung aus Ressentiments und Nutznießerei

Grabas und seine Kollegen wollten zuerst hinfahren nach Kiew und dort helfen, die Verletzten zu versorgen. Doch dann, so erzählt er, hätten sie gedacht, dass sie in Polen nützlicher seien. Sie fuhren also mit Medikamenten hin und mit Verletzten zurück. Fünf Verletzte waren es. Vier haben Przemysl schon verlassen, einer ist noch da, der, den Grabas jetzt besucht.

Der polnische Arzt ukrainischer Herkunft untersucht im polnischen Krankenhaus einen Ukrainer, der verletzt wurde, weil er sein Land da sehen wollte, wo Polen seit zehn Jahren ist: als Teil Europas, der EU. Jedenfalls des Westens.

Es ist eine seltsame Mischung dort, wo Europa auf das Land trifft, das Russlands Präsident Wladimir Putin als Teil seiner Einflusssphäre ansieht. Eine Mischung aus blutiger Geschichte, friedlicher Gegenwart und unklarer Zukunft. Aus Ressentiments und Nutznießerei. Aus kleinem Grenzverkehr und großer Politik. In diese Mischung hinein rammt sich der morgige Sonntag, Wahltag in Europa und in der Ukraine, wie ein Mahnmal. Ein Moment des Innehaltens und der Vergewisserung: Wer sind wir, wer die anderen?

Bei Grabas verläuft die politische Weltengrenze nicht nur mitten durch die Geschichte seiner Familie, sondern auch mitten durch seine kleine Familie. Seine Frau Olga ist aus Rivne in der Westukraine, was vor dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehörte. Sie hat noch einen ukrainischen Pass und sich mit dem ihren Außenblick auf die EU bewahrt.

Als sie nach Polen kam – nach Europa, wie sie selbst sagt –, war das Land schon in der EU. „Es war schon damals anders, als in der Ukraine, doch seitdem hat sich noch mehr geändert“, sagt sie und meint das Offensichtliche: dass ständig gebaut wird und an allen Baustellen die Schilder stehen mit dem Hinweis, dass hier EU-Geld investiert werde. Aber es ist nicht nur das. Es gibt auch noch etwas Nicht-Sichtbares, was der EU-Beitritt mit sich brachte. Eine Art Disziplinierung. Olga Grabas merkt das immer dann, wenn sie ihre Landsleute beobachtet: Sobald sie die Grenze überschreiten würden, schalte deren Gehirn um. Sie passten sich an die polnische Höchstgeschwindigkeit an, benutzten einen Kindersitz – komplett anders als in der Ukraine. „Da sagte mir einer, man müsse in Polen die Vorschriften befolgen, denn in der Ukraine könnte man zur Not einen Polizisten bestechen.“ In Polen gehe das nicht, die polnischen Polizisten wollten kein Geld, und wenn man sie bestechen wolle, kriege man noch mehr Ärger.

Der Zweite Weltkrieg änderte alles

Olga Grabas streitet oft mit ihren polnischen Bekannten, die ihrer Meinung nach zu oft meckern und nicht zu schätzen wissen, was sie haben.

Sie ist auch Ärztin, Kinderärztin. Seit drei Jahren arbeitet sie im selben Krankenhaus wie ihr Mann. Genauso viele Jahre dauerte es davor, bis die nötigen Formalitäten erledigt waren. Ihr ukrainischer Studienabschluss wurde in Polen nicht anerkannt, als Nicht-EU-Bürgerin waren ihre Rechte zunächst beschränkt.

Aber nun ist sie da. Und auch gerade im Dienst. „Es ist unglaublich nett, Ukrainerin in Polen zu sein“, sagt Olga Grabas und lacht. Sie meint die Gegenwart.

„Es war nicht einfach, Ukrainer in Polen zu sein, besonders hier im Osten nicht“, hatte zuvor ihr Mann gesagt. Und die Vergangenheit gemeint.

Przemysl, eine hübsche 65.000-Einwohner-Stadt in den Vorkarpaten, hat sich noch nicht richtig an den Grenzcharakter gewöhnt. Erst seit 1945 verläuft hier die Grenze zur Ukraine. Jahrhundertelang lag Przemysl irgendwo in der Mitte – erst im Königreich Polen und Litauen, dann gehörte es zu Österreich und war als Kulturstadt mit Krakau und Lemberg zu vergleichen. Als Polen 1918 wieder unabhängig wurde, wurde Ostgalizien, wie die Gegend dort heißt, polnisch – und Przemysl multikulturell: polnisch, jüdisch, lemkisch, ukrainisch. Neben Synagogen standen hier orthodoxe und katholische Kirchen und viele Klöster. Der Zweite Weltkrieg änderte alles.

In ihrem Nichtangriffspakt teilten Hitler und Stalin die Stadt auf. Der Fluss San, der sie durchquert, sollte nunmehr die Grenze sein. Bekanntlich hielt der Pakt nicht. Nach Kriegsausbruch formierte sich ein ukrainisch-nationalistischer Widerstand, und 1943 kam es zu einem Massaker an Polen in der Gegend Wolhynien. 100.000 Menschen wurden ermordet. Die Vergeltungsaktion kostete 10.000 Ukrainern das Leben, und nach dem Krieg wurden weitere 150.000 Ukrainer aus den polnischen Vorkarpaten vertrieben. Eine Aufarbeitung blieb aus. „Jeder wollte immer vom anderen eine Entschuldigung hören“, sagt Grabas. Die Polen von den Ukrainern wegen Wolhynien. Die Ukrainer von den Polen wegen der Zwangsumsiedlung.

Die Vergangenheit bleibt eine Wunde

Obwohl er erst 30 Jahre alt ist, erinnert Grabas sich, dass er, wenn er als polnisches Kind ukrainisch gesprochen hat, beschimpft wurde: „als Mörder, als Ukrainer, als Fremder.“

Nach der Wende hörte das schnell auf. Schon 1991 wurde der ukrainische Schulkomplex reaktiviert, von der Grundschule bis zum Gymnasium. Der Sohn von Sylwester und Olga besucht einen öffentlichen ukrainischen Kindergarten und wechselt fließend zwischen beiden Sprachen. Dennoch ist die schwierige Vergangenheit immer noch eine Wunde. Das zeigt sich jetzt wieder. Während die polnische Regierung Kiew unterstützt, versuchen einige nationalistische Politiker des Landes, alte Ängste und antiukrainische Ressentiments neu zu beleben und zeigen Bilder von in Wolhynien ermordeten polnischen Zivilisten.

Grabas glaubt aber nicht, dass das verfängt. „Es hat sich vieles geändert.“

Das liegt auch am Geld. 500 Millionen Zloty hat Przemysl seit dem EU-Beitritt für Investitionen bekommen. Rund 122 Millionen Euro. Die Stadt musste zwar auch einen Teil beisteuern, doch ohne die europäische Unterstützung wären einige Projekte gar nicht vorgeschlagen worden. Die EU bringt nicht nur Geld, sondern auch Motivation.

„Wären wir in der EU, wäre es bei uns so schön wie in Polen“

Direkt hinter der Grenze wurde eine Tafel aufgestellt: „Willkommen in der EU.“ Damit es niemand übersieht. Doch das wäre sowieso nicht der Fall. Vom Grenzübergang führt auf der polnischen Seite eine Landesstraße, die mithilfe von EU-Geldern modernisiert wurde, zu einer komplett neuen Autobahn, die mithilfe von EU-Geldern gebaut wurde. Die Ukrainer investierten zur Fußball-Europameisterschaft 2012 zwar auch in Infrastruktur. Doch sie bauten nur eine neue Straße von der Grenze nach Lemberg und Kiew, und die gilt als die einzig gute Strecke in der ganzen Westukraine.

„Wären wir in der EU, wäre es bei uns so schön wie in Polen“, sagen die Leute am Busbahnhof von Przemysl, wo Kleinbusse in Richtung Ukraine abfahren. Etwa 50 Cent kostet das Ticket, unabhängig von der Gepäckgröße. Im Bus sitzen nur Ukrainer. Polnisch hört man nicht. Große Taschen, Koffer, Tüten vollgestopft mit Windeln, Waschpulver oder Wurst.

Jacek Tluczek ist Mitte 40, ein Pole ohne jede Verwandtschaft mit dem Ukrainischen und Manager des „Dolina Korczowa“, einem Einkaufszentrum nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Zwei große Hallen stehen in der Mitte von nirgendwo. Alle Schilder sind zweisprachig: Polnisch und Ukrainisch. Tluczek spricht schnell, als würde er schon ahnen, dass sein Handy ihn gleich wieder unterbrechen wird.

„Die ganze Region lebt von den Ukrainern“, hatte er gerade gesagt, als es klingelt. Und: „Ist die Ukraine instabil, schadet das auch der hiesigen Wirtschaft.“

Das Einkaufszentrum – gebaut mithilfe von EU-Geldern – ist ausschließlich auf den ukrainischen Kunden ausgerichtet. Das Geschäft lief immer besser, doch dann kamen die Proteste auf dem Kiewer Maidan. Seit Februar sind die Umsätze dramatisch gesunken. Die ukrainische Währung verlor an Wert, die Leute dort haben Angst vor der Zukunft, Löhne werden nicht regelmäßig ausgezahlt.

Handel im Grenzgebiet leidet unter der Krise

„Ich will die Ukraine in der EU sehen, auf jeden Fall“, fährt Tluczek nach dem Telefonat fort. „Polen hat profitiert, die Ukraine hat auch ein Recht darauf.“

Nach der Wende stürzte die Region um Przemysl wie der gesamte Osten Europas erst mal ab. Fabriken wurden geschlossen, die Arbeitslosigkeit stieg. Junge Menschen wanderten aus. Dann übernahm der Handel die Regie. Einen Euro kostet eine Packung Zigaretten in der Ukraine, in Polen drei Mal so viel. Eine Möglichkeit, zu einer kleinen Rente oder dem Arbeitslosengeld dazuzuverdienen. Vor allem für die Ukrainer aus dem Grenzgebiet, aber auch für Polen. Vor dem Schengen-Beitritt Polens 2007 überquerten hunderte Ukrainer mehrmals täglich die Grenze mit Zigaretten und Alkohol. Danach schloss Polen die Grenze und führte eine Visumspflicht ein, die ab 2009 durch Sonderregelungen für den kleinen Grenzverkehr aufgeweicht wurde.

Doch dann änderte sich die Richtung: Die Ukrainer kamen nicht mehr nach Polen, um zu verkaufen, sondern um zu kaufen. In Przemysl gibt es kaum Märkte, wie man sie von der deutsch-polnischen Grenze kennt. Es lohnt sich kaum, etwas hierherzubringen, denn die Preise in der Ukraine sind stark gestiegen. Die Ukrainer kauften alles: von Elektrogeräten und Baumaterial über Bekleidung bis hin zu Lebensmitteln. Nicht nur wegen der Preise, sondern auch wegen der Qualität. Die lange Ausfahrtstraße von Przemysl Richtung Grenze wurde mit Baumärkten, Discountern und Warenhäusern bebaut. Aber seit den Maidan-Ausschreitungen bleiben die Kunden weg. Um fast die Hälfte ist der Handel im kleinen Grenzverkehr seither gesunken.

„Wir beten, damit es der Ukraine endlich wieder besser gehen wird“, sagt Tluczek. In Warschau sei das Wahlergebnis in der Ukraine eine Angelegenheit der Politiker. Hier, in Przemysl, sei es die Angelegenheit der Durchschnittsbürger. „Für uns ist am 25. Mai die Wahl in der Ukraine viel wichtiger als die zum Europäischen Parlament“, sagt er noch, dann muss er wieder an sein Handy gehen.

Nur zehn Kilometer hinter Przemysl endet Europa

Seine ukrainischen Partner und Kunden sprechen ungern über ihre Situation. Das ist ihm aufgefallen. Über das Wetter könne man reden, Projekte oder über die Überlegenheit der ukrainischen Pelmeni über den polnischen Piroggen. Auch über die guten Straßen. Doch wenn man über die morgige Wahl und die Lage in der Ukraine spricht, würden sie wortkarg. „Als würde es um etwas Gefährliches gehen.“ Vor allem dann, wenn weitere Ukrainer in der Gesprächsrunde seien. Er herrsche ein unübersehbares Misstrauen. Vielleicht, sagt Tluczek, liege es am sowjetischen System, das in der Ukraine noch tief verwurzelt sei.

Tluczek selbst wird an den Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen, doch das Interesse daran ist in Przemysl sehr gering. Das Interesse der meisten hier gilt der Wahl beim Nachbarn.

Wenn die Sonne scheint, haben Sylwester und Olga Grabas vom Balkon ihrer Wohnung im sechsten Stock eines Häuserblocks auf dem Weinberg in Przemysl eine weite Sicht. Bis in die Ferne erstreckt sich die Landschaft. Unten im Tal glänzen zahlreiche Kirchenkuppeln in der Altstadt (renoviert mithilfe von EU-Geldern), schimmert der Fluss San unter der modernen Brücke (gebaut mithilfe von EU-Geldern) und zieht sich die neue EU-finanzierte Autobahn entlang. „Dort ist bereits die Grenze“, Sylwester Grabas zeigt in Richtung Osten, hinter die Felder. Nur zehn Kilometer hinter Przemysl endet Europa. Dann beginnt die Ukraine. Eine andere Welt. Hüben und drüben, wir und sie. Oder?

Die Leute wissen nicht, wen sie wählen sollen

Für Sylwester Grabas ist das Bild nicht einfach. Er sagt, er habe sein Herz auf beiden Seiten. Und dass in einem Herzen Grenzen keinen Platz hätten.

Seine Frau Olga wird morgen nicht wählen. Aber jenseits der Grenze ihre Eltern und ihre Schwester, die gehen. Auch wenn sie nicht wissen, wenn sie wählen sollen. Die Leute seien verwirrt, sagt Olga. Eigentlich wüssten sie genau, was sie wollten: einen proeuropäischen, ehrlichen Präsidenten. Aber da liege das Problem. „Wir haben keinen solchen Kandidaten“, sagt Olga Grabas. Proeuropäisch ist die aktuelle Regierung, auch die Spitzenkandidaten, wie die meisten Menschen in der Westukraine. Aber ehrlich – man habe schon seine Zweifel.

Zu Hause bei Olga und Sylwester Grabas wird oft über die Lage in der Ukraine und die Wahl gesprochen. Auch ihr kleiner Sohn bekommt das alles mit. „Ich will keinen doofen Krieg in der Ukraine“, mischt er sich plötzlich ins Gespräch ein. Die Eltern schauen erschrocken.

Und wie hatte Tluczek über seine ukrainischen Geschäftspartner gesagt: „Angst ist da. Vor dem Morgen.“

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