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Konfrontation: Bürger und Soldaten auf dem Taksim-Platz in Istanbul in der Nacht auf Samstag.

© dpa

Krisen wie in der Türkei: Lernen wir Menschen denn nie dazu?

Die neue Welt-Unordnung: Warum es jetzt auf den Einzelnen ankommt – und nicht nur auf die große Politik. Ein Essay.

Die Welt, wie wir sie kennen, droht zu zerfallen. In tausende und abertausende Teile, und wir, die Menschen, erscheinen in diesem Moment unfähig, sie so schnell wieder zusammenzusetzen, wie es wohl nötig wäre, um daraus keine große Katastrophe werden zu lassen. Ja, eine große Katastrophe.

Die Ereignisse dieser Tage, die sich überstürzen, die uns alle, die wir sie beobachten und doch, weil sie oft in relativer Ferne stattfinden, nicht beeinflussen können, zeigen uns die Grenzen auf. Wie viele da mit dem zu spielen scheinen, was man Schicksal nennen kann. Der dritte Weltkrieg, der ausgeschlossen wirkte, hat der nicht längst begonnen? Mit vielen kleinen Kriegen?

Kleine Kriege, von denen jeder sich auswachsen kann zu dem, was nicht mehr beherrschbar ist. Sowieso nicht mehr so einfach, aber auch unter Anspannung verschiedener, zusammengeführter Kräfte. Der Nahe Osten, der Mittlere Osten, Mittelosteuropa, Osteuropa, Südeuropa, das Südchinesische Meer, die fortwährend wieder aufflammenden Kämpfe in fast allen Teilen Afrikas … Es ist nicht nur der allzeit verfügbaren Information geschuldet, dass wir alles das mitbekommen. Es ist auch so, dass die Welt statt in eine neue Ordnung nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte in eine dramatische neue Unordnung geraten ist.

Und mittendrin steht die Politik, stehen die Politiker. Wirken nicht auch sie ratlos, hilflos, manche substanzlos? Natürlich nicht alle, aber viele. Zu viele, um aufzuhalten, was da an Herausforderungen auf die Menschheit zurollt? Wer nach Großbritannien schaut, in die USA, nach Russland, auch in die nun bis auf ihre Grundfesten erschütterte Türkei, dem wird doch gerade bange werden. Kaum je zuvor war der Begriff der politischen Klasse deswegen so sehr neu zu füllen: mit Klasse.

Das Nationale im Denken muss überwunden werden

Wozu die Politiker und der Einzelne aufgefordert sind, ist eine Aufgabe, über die Friedrich Dürrenmatt schon 1950 in „Das Schicksal der Menschen“ geschrieben hat, ein quasi konstitutives Stück über Politik. Da muss als erstes Schluss sein mit der „sturen Ungerechtigkeit der Politik, mit der sie sich über jeden Einzelnen hinwegsetzt“, und nur noch als wirklich ansieht, was eine Abstraktion ist, nämlich die Nation, der dann alle Beweggründe in die Schuhe geschoben werden können, die der Einzelne nie hat.

Was bedeutet: Auch darum muss das Nationale im Denken überwunden werden. Immer noch, mehr denn je. Denn das Recht des Einzelnen auf Glück, „the Pursuit of Happiness“, dieser urmenschlichen Sehnsucht, niedergeschrieben in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung schon 1776, ist zu wahren. Das ist nur möglich, wenn Geschichte über die Nation hinaus gedacht und geschrieben wird. Und das war es auch, was nach dem Fall der Mauer und dem Zerschneiden des Stacheldrahts in Europa diejenigen geradezu beseelt hatte, die den Aufbruch in eine wahrhaft zivilisierte Welt der friedlichen Zusammenarbeit auf allen Feldern ebnen wollten. Das sollte eben mehr sein als friedliche Koexistenz.

Diesem Gedanken – vor allem diesem, nie zu vergessen – war die Idee des Euro geschuldet. Er sollte Bindemittel des alten Kontinents sein, sollte Nationen, aber weit darüber hinaus die Menschen verbinden, auf dass sich damit ihr Schicksal auf neue Weise verbindet. Weil, wie Dürrenmatt hellsichtig meinte, die Menschheit sich Abenteuer der alten Art doch immer weniger leisten könne, von den Fahrten auf den Mond enttäuscht heimkehren werde, deshalb die Abenteuer des Geistes finden müsse. Das war 1950.

Wir sind ohnmächtig und mächtig zugleich

Und heute? Heute ist der Einzelne, wie der einzelne Politiker, gefordert, Chancen und Aufgaben zu definieren. Anders gesagt: Denken wir uns das menschliche Zusammenleben als großen sozialen Raum, dann ist es Aufgabe der Politik, alle sozialen Räume zu sichern. Sie zu erhellen, sie zu beleben die Sache des Einzelnen. „Sonst wird die Erde zu einem Gefängnis“, schreibt Dürrenmatt. „Eine Organisation muss schematisieren, allein der Einzelne ist imstande, einen Iwan wichtiger als die Sowjetunion zu nehmen und so die wahre Größenordnung wieder herzustellen.“

Von der Politik Vernunft, vom Einzelnen – ja, was? Liebe, meinte Dürrenmatt. Liebe … Engagement, am besten leidenschaftliches, ist in unseren Zeiten vielleicht das anziehendere Wort. Damit sich ergänzt, was jetzt zu geschehen hätte, wenn wir alle erkennen, dass es nötig ist: mitzuwirken und das Schicksal auch in unsere Hände zu nehmen. Aufgabe der Politik wäre demnach, dass aus dieser Gesamtlage die Chance der Einzelnen wird. Denn es ist ja nicht so, dass die Geschichte ohne unser aller Dazutun abläuft, sondern dass wir „geheimnisvoll die Fäden in der Hand haben“.

Wir sind ohnmächtig und mächtig zugleich. Mächtig, wenn wir festhalten, was sich an positiver Entwicklung bietet – und uns dem entgegenstellen, was das gefährdet. Zum Beispiel, wenn es in Staaten den Einzelnen den Kopf kosten kann, sobald er sich auf das Abenteuer des Geistes einlässt; oder zum Beispiel, wenn die Organisation die Nation über alles stellt, alles gleichmacht, um nicht zu sagen: gleichschaltet.

In der Türkei unter Erdogan, das nur am Rande, ist eine solche Tendenz auch auszumachen. Und vor solchem Hintergrund gewinnt eine sperrige Entscheidung wie die der Briten, die Europäische Union als Organisation zu verlassen, eine weitere Dimension. Endet sie nicht als bloßer Versuch der Stärkung des Nationalgedankens, sondern mündet sie in die Bereitschaft, sich Europas Werten neu zuzuwenden, dann liegt darin eine Chance. Dann könnte dieser soziale Raum tatsächlich – unabhängig von allem, was organisatorisch-technisch schwierig ist – wieder erhellt und belebt werden. Wenn es mehr um den Geist Europas als um feste, von manchem als erstarrt empfundene Strukturen geht, lässt sich in quasi neuem Geist die Wertegemeinschaft besser vor dem Zerfall sichern.

Zerfall – das ist das Wort der Stunde und die Drohung unserer Zeit. Es müsste daher dringend gelingen, nicht mehr über Grenzen zu streiten und über Macht, wie sie sich auch immer darstellt, sondern sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: das Schicksal der Menschheit. Lernen wir das denn nie?

Nie wussten wir mehr, nie konnten wir mehr

Dabei sind Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Oder: Ein klitzekleiner Teil der Menschheit lebt in aberwitzigem Wohlstand, viele, viele andere dagegen leiden unter grotesker Armut – seit 1950 hat sich manches nicht nur nicht verändert, es hat sich verschärft. Soziale Ungerechtigkeit und zu wenig Bildung weltweit feuern zusammengenommen Fanatismus in allen Formen noch an, lassen irregeleiteten Glauben rotglühend werden. Das Unbeherrschte bedroht Einzelne, die sich ihres Geistes bedienen, und wird zugleich zu einem Herrschaftsinstrument. Manchmal eben eines Einzelnen.

Wirklichkeit und Möglichkeit: Sie fallen auseinander. Nie wussten wir mehr, nie konnten wir mehr, nie sind wir enger zusammengerückt. Was uns beim Gebrauch der Vernunft die Möglichkeit gäbe, den Planeten als Ganzen zu begreifen und gerechtere Lebensbedingungen für den Einzelnen herzustellen, „eine Aufgabe, die sich umso dringender stellt, als auch der chinesische Bauer und der argentinische Hirte in unser Bewusstsein aufgenommen sind“. Wie 1950, wie von Dürrenmatt gesehen, und heute noch mehr so.

Dazu bräuchte es jetzt ganz dringend eine Weltgemeinschaft, die sich nicht nur dem Namen nach als „Vereinte Nationen“ versteht. Wer auch immer ihr Generalsekretär wird – er oder sie ist ein Einzelner und viel mehr als das. Zumal das, was damals begann, ohne dass die Menschheit einen Begriff dafür gehabt hätte, heute allgegenwärtig ist: die Globalisierung. Die der Wirtschaft. Der Gedanken. Der Gefahren. Der Chancen. Der Aufgaben, überall.

Noch einmal Friedrich Dürrenmatt. „Die Aufgaben der Politik liegen in der Gegenwart, nicht in der Zukunft, es geht um uns, nicht um die ungeborenen Enkel, in deren Namen die heutigen getötet werden. Die Missverständnisse sind groß. Die totalen Staaten haben das Misstrauen in die Organisationen hineingetragen, weil sie den Einzelnen zerstörten, weil sie die Freiheit missbrauchten. Es gilt abzuklären, was des Kaisers und was des Einzelnen ist. Nur so kann die Chance der Völker, die sich vermindert, weil die Idee des Vaterlands, die ihnen Schwungkraft verlieh, notgedrungen verblasst, durch die Chance des Einzelnen wettgemacht werden, die sich im gleichen Maße vergrößert.“ Das ist die Chance: Der Einzelne sind wir.

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