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Nicht schädlich, aber auch ohne Nutzen: zusätzliche Ultraschalluntersuchungen von Schwangeren.

© dpa

Kritik an "Igel"-Geschäften: Ärzte verkaufen jedem Zweiten Selbstzahlerleistungen

Jeder Zweite lässt sich von seinem Arzt zu Selbstzahlerleistungen überreden. Dabei fühlen sich die meisten Patienten noch nicht mal ordentlich über die Risiken aufgeklärt.

Die Verkaufsbedingungen sind besser als auf jedem Bazar – und in vielen Fällen auch nicht weniger anrüchig. Jeder Zweite, der in einer Arztpraxis sogenannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) auf eigene Kosten angeboten bekommt, nimmt sie auch an. Dabei fühlen sich drei Viertel der Patienten nicht ausreichend über mögliche Nebenwirkungen und Schäden informiert.

Arztpraxen als Verkaufsräume

Das sind Ergebnisse einer aktuellen Umfrage, die der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) am Dienstag in Berlin präsentierte. Der Markt mit Selbstzahlerleistungen expandiere weiter, sagte MDK-Geschäftsführer Peter Pick. "Für manche Facharztgruppen ist IGeLn zum Volkssport geworden.“ Damit würden Arztpraxen zu Verkaufsräumen, in denen ähnlich agiert werde wie bei anderen Händlern. „Nur wird die nicht offen gesagt, sondern durch die ärztliche Aura ummantelt.“

Schätzungen zufolge verdienen Ärzte hierzulande pro Jahr rund eine Milliarde Euro mit solchen Offerten. Dabei sind nicht alle gleich stark im Geschäft. Knapp 72 Prozent der Igel-Angebote kommen, wie das Wissenschaftliche Institut der AOK ermittelte, aus fünf Facharztgruppen. An der Spitze liegen Gynäkologen und Augenärzte, gefolgt von Orthopäden, Hautärzten und Urologen.

Am besten verkaufen sich Krebsvorsorge, Glaukom-Früherkennung und Zahnreinigung

Am besten verkaufen sich Ultraschalluntersuchungen von Brust und Eierstöcken, PSA-Tests, Glaukom-Früherkennung und professionelle Zahnreinigung – alles Leistungen, für die es aus MDK-Expertensicht keinen ausreichenden Nutzennachweis gibt. Im Gegenteil: Ultraschalltests der Eierstöcke wurden wegen vieler Fehlalarme und daraus resultierenden unnötigen Operationen rundheraus als schädlich bewertet, bei PSA-Tests und Messung des Augeninnendrucks lautet der Befund auf „tendenziell negativ“.

Seit 2012 hat der MDK durch Experten Nutzen und Risiken von 41 individuellen Gesundheitsleistungen untersuchen lassen, die Ergebnisse des so genannten IGeL-Monitors sind im Internet zu finden. 17 Leistungen erhielten das Urteil „negativ“ oder „tendenziell negativ“, bei 15 war das Ergebnis „unklar“. Und nur drei wurden als „tendenziell positiv“ bewertet: Akupunktur zur Migräne-Prophylaxe, Lichttherapie bei Winterdepression und Stoßwellentherapie bei Fersenschmerz. Bei letzterem wird nun sogar geprüft, ob es zur regulären Kassenleistung werden soll.

Mehr Hinweise auf Schaden als auf Nutzen

"Unsere Bewertungen zeigen, dass vieles, was in den Praxen angeboten wird, der wissenschaftlichen Bewertung nicht Stand hält", sagte Michaela Eikermann, Leiterin des Bereichs Evidenzbasierte Medizin beim MDS. "Beim überwiegenden Teil können wir nicht von Hinweisen für einen Nutzen, sondern eher von Hinweisen für einen Schaden für den Patienten sprechen."

Neu hinzugekommen ist jetzt die Beurteilung zusätzlicher Ultraschalluntersuchungen für Schwangere. Ergebnis: Solches "Baby-Fernsehen" schadet nicht. Wer es nicht in Anspruch nimmt, braucht aber auch kein schlechtes Gewissen zu haben.

Ohne schriftliche Vereinbarung brauchen Patienten nicht zahlen

Mit diesem schlechten Gewissen arbeiten viele IGeL-Anbieter, weiß Pick aus Patientenbeschwerden. Manche praktizierten „einen bisweilen aggressiven Verkaufsdruck“. Sätze wie „Das sollte Ihnen Ihre Gesundheit wert sein“ gingen gar nicht.

Der MDK-Chef appellierte an die Ärzte, hier endlich einen „Selbstreinigungsprozess“ in Gang zu setzen. Die Ärzte hätten ihren Patienten zu erklären, warum eine Selbstzahlerleistung angebracht und notwendig sei. Sie hätten über den Nutzen und das jeweilige Risiko aufzuklären. Es müsse eine schriftliche Vereinbarung geben, ansonsten bräuchten die Patienten nicht bezahlen. Und ihnen müsse auch eine angemessene Bedenkzeit eingeräumt werden.

Patientenschützer fordern verbindliche Bedenkzeit

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte den Gesetzgeber auf, diese Bedenkzeit zwischen Igel-Angebot und Leistung verbindlich auf mindestens 14 Tage festzusetzen. Viel zu häufig würden Patienten mit fragwürdigen Angeboten überrumpelt, sagte Vorstand Eugen Brysch.

Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, forderte von den Ärzten auch, von Verzichtserklärungen abzusehen, wenn Patienten die Zusatzleistungen nicht haben wollten. Eine solche formalisierte Ablehnung werde von den meisten Patienten als Nötigung empfunden.

Linke: Geschäftemacher beschädigen das Ansehen aller Ärzte

Das "IGeL-Marktgeschrei" entspreche nicht der Ethik des ärztlichen Berufes und schade "dem Ansehen der ganzen Ärzteschaft, auch denjenigen, die dies in ihrer Praxis nicht so handhaben“, sagte Birgit Wöllert von der Linkspartei. Schuld daran sei die Gesundheitspolitik der Koalition, "da sie nicht dem einfachen Grundsatz folgt, dass alles, was medizinisch notwendig ist, von den Kassen bezahlt wird". Viele Versicherte dächten deshalb, sie müssten für eine gute Versorgung selbst in ihr Portemonnaie greifen.

Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, dagegen nannte es falsch, die individuellen Gesundheitsleistungen "unter Generalverdacht zu stellen". Im individuellen Fall könnten sie "durchaus medizinisch sinnvoll sein".

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