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November 2020: Konfrontation der "Querdenker"-Demonstranten mit der Polizei.

© Sebastian Kahnert/AFP

Kritik an Polizeistrategie: Wie konnte die „Querdenken-Demo“ in Leipzig so eskalieren?

Bis zu 45.000 Corona-Leugner missachteten in Leipzig die Auflagen, die Polizei schien machtlos. Die Bundespolitik fordert nun Aufklärung.

Gegen 18 Uhr stimmen die selbsternannten „Querdenker” einen ihrer Lieblings-Schlachtrufe an. „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ schallt es über den Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs. Kurz darauf werden mehrere Polizeiketten alles andere als friedlich durchbrochen. Es gelingt den Demonstranten, über den Leipziger Ring zu ziehen. Dies war ihnen zuvor von der Versammlungsbehörde untersagt worden.

Die Polizei scheint machtlos, begleitet den Aufzug zunächst nur mit einer einzigen Reiterstaffel.

Nur weil linke Gegendemonstranten seit Stunden den Roßplatz auf der anderen Seite der Innenstadt blockieren, gelingt es den Teilnehmern des Protestzugs, zusammengesetzt aus Gegnern der Pandemie-Maßnahmen, rechten Hooligans und Verschwörungstheoretikern, nicht, die gesamte Leipziger Innenstadt zu umrunden.

Der Samstag begann mit einem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Bautzen, welches die von der Stadt Leipzig erlassenen Demonstrationsauflagen teilweise für nicht rechtens erklärte.

Diese sahen ursprünglich vor, dass die Großdemonstration aus Gründen des Infektionsschutzes nicht im Zentrum auf dem Augustusplatz, sondern vor den Toren der Stadt, auf dem Gelände der Neuen Messe, stattfinden sollte.

Das Gericht begründete im Kontext des hohen Guts der Versammlungsfreiheit, dass der Protest unter Auflagen in der City stattfinden darf. Die Voraussetzungen: eine Teilnehmerbegrenzung von 16.000 Menschen, Abstand, Maskenpflicht und kein bewegender Demonstrationszug.

Die Demonstranten hielten die Auflagen nicht ein

Am Ende des Tages bilanzierte die Polizei, dass all diese Auflagen nicht eingehalten worden seien. Bis zu 45.000 Menschen folgten dem „Querdenker“-Protest in Leipzig.

Die Mehrheit von ihnen trug keinen Mund-Nasen-Schutz. Schon im Vorfeld war von Journalisten und dem sächsischen Verfassungsschutz von einer intensiven Mobilisierung durch die rechte bis rechtsextreme Szene für den Sonnabend gewarnt worden.

Tatsächlich fanden sich mehrere hundert Personen aus dem Hooligan-Spektrum, freien Kameradschaften und der NPD sowie anderen rechten Splitterparteien in Leipzig ein. Im Laufe des Nachmittags kam es aus diesem Umfeld und von gewaltbereiten „Querdenker“-Demonstranten zu Angriffen auf Polizisten und Journalisten. Insbesondere nach der Auflösung der Demonstration durch die Versammlungsbehörde kam es zu chaotischen Szenen.

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Hooligans jagen Journalisten

Von der Polizei unbegleitete Hooligan-Gruppen jagten Journalisten durch die Stadt, Einsatzkräfte wurden mit Flaschen und Pyrotechnik beworfen, mehrfach wurden Polizeiketten durchbrochen.

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union sprach am Sonntag von 38 Medienvertreter, die in Leipzig an ihrer Arbeit gehindert worden seien – neun davon durch Polizeibeamte. Zudem habe man eine völlig neue Dimension der Gewalt beobachtet, heißt es von Seiten der Gewerkschaft.

Die Leipziger Polizei zählte im Rahmen sämtlicher Einsätze am Samstag insgesamt 102 Straftaten, darunter Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Darunter fallen jedoch auch Straftaten, die am Abend durch die linke Szene in alternativen Stadtteil Connewitz verübt worden sind. Hier beschädigten Autonome eine Polizeiwache und errichteten brennende Barrikaden.

Massive Kritik aus der Politik

In der Bundespolitik wurde der Ruf nach einer Aufklärung der Ereignisse laut. Unionsfraktionsvize Thorsten Frei nannte die vom Bautzener Oberverwaltungsgericht genehmigte Demonstration in der Innenstadt „unverantwortlich“.

In Sachsen wurde der Rücktritt von Innenminister Roland Wöller (CDU) gefordert. Die Grünen in Sachsen, Teil der gemeinsamen Koalition mit CDU und SPD, teilten auf Twitter mit: „Roland Wöllers Handeln als Innenminister ist nicht mehr tragbar. Das muss Konsequenzen haben.“

Der stellvertretende Ministerpräsident des Freistaats, Martin Dulig (SPD), sprach davon, dass sich der „Staat in Leipzig am Nasenring durch die Manege“ führen ließ.

Ohne Abstand und ohne Masken protestierten Tausende in Leipzig.
Ohne Abstand und ohne Masken protestierten Tausende in Leipzig.

© Sebastian Kahnert/dpa

Die Leipziger Polizeiführung verteidigte derweil ihre Einsatztaktik. Der Polizeipräsident der Messestadt Thorsten Schultze sprach in einem Videostatement von drei Zielen des Einsatzes, von denen zwei weitestgehend erreicht wurden: Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs und die Verhinderung möglicher Gewalttaten.

Das dritte Ziel, die Durchsetzung des Infektionsschutzes, sei nicht gelungen, so der Polizeipräsident. Man habe allgemein auf eine „Deeskalationsstrategie“ gesetzt und deswegen den eigentlich verbotenen Umzug über den Ring auch nicht gestoppt, sondern lediglich begleitet.

Noch am Samstagnachmittag teilte die Pressestelle der Leipziger Polizei dem Tagesspiegel mit, dass man auf einen eventuell von „Querdenken“ geplanten Umzug über den Ring vorbereitet wäre und Einsatzkräfte bei Gelegenheit einschreiten würden, um diesen zu unterbinden.

Die Grenzen des Machbaren werden verschoben

Wie Politik und Polizei den kommenden Corona-Demonstrationen begegnen werden, ist offen. Kritisiert wird vor allem das Konzept der „Deeskalation“. Durch das zaghafte Vorgehen der Einsatzkräfte verschieben sich für die Demonstranten die Grenzen des Machbaren, beobachten Experten.

Auch der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Jörg Radek zeigte sich über das Demonstrationsgeschehen des „Querdenken“-Milieus: „Es hat den Eindruck, als steige die Aggressivität der Teilnehmenden von Mal zu Mal an.” Außerdem sprach der Gdp-Vize von einer „Verzerrung des Versammlungsrechtes“.

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