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Auf die Barrikaden. Eugène Delacroix hat die Erinnerung an die Juli-Revolution von 1830 verewigt, mit der die Pariser Bevölkerung die Rückkehr des Adels an die Macht verhinderte.

© akg-images / Erich Lessing

"La Grande Nation": Wie wichtig ist Frankreich noch?

Am Sonntag fällt im Nachbarland eine Vorentscheidung bei der Präsidentschaftswahl. Der Sieger steht an der Spitze eines Staates, der vieles ist: Atommacht, Kulturnation, Deutschlands wichtigster Partner in Europa – und zutiefst verunsichert.

Der Kandidat blickt in ein Fahnenmeer. Die Anhänger schwenken rote, weiße und gelbe Flaggen – und auch die Trikolore darf nicht fehlen. François Hollande, der gute Chancen hat, Frankreichs nächster Präsident zu werden, fängt seine Rede mit dem pompösen Satz an, er sei gekommen, um „von Frankreich zu erzählen“.

Mit diesen Worten begann vor genau drei Monaten in einem Hangar von Le Bourget bei Paris die Wahlkampagne des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Hollande. Es ist kein Zufall, dass er bei seiner Rede in der Flugzeughalle von Frankreichs Werten sprach, seinen Prinzipien, seiner Kultur, seiner Sprache. Wer auf der anderen Seite des Rheins zum Präsidenten gewählt werden will, muss an den Nationalstolz der Franzosen appellieren. Auch Staatschef Nicolas Sarkozy, der auf der Pariser Place de la Concorde vor einer Woche in den Wahlkampfendspurt ging, nannte das Meeting gleich eine „Versammlung für ein starkes Frankreich“. Darunter geht es in der „Grande Nation“, die zwar nicht gerne so genannt werden will, in der aber ein bisschen Grandeur nie schaden kann, einfach nicht.

Wenn an diesem Sonntag bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl schon einmal eine Vorentscheidung fällt, dann ist das ein bisschen so, als wenn sich unser Nachbarland auf die Couch legt. Denn Frankreich ist nicht nur eine Nation, die sich Größe wünscht, sondern auch permanent an sich selbst zweifelt. Das Nachbarland, nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft in Europa, ist nicht nur Atommacht, sondern auch Erbin des revolutionären Wahlspruchs Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eigentlich haben die Franzosen viele Trümpfe auf der Hand – und trotzdem sind sie permanent von der Angst geplagt, ihren Platz in der Welt nicht mehr zu finden und die Globalisierung nicht mehr entscheidend mitprägen zu können. Manchmal macht sich Frankreichs zerrissene Volksseele mit Protest Luft – häufig auch bei der ersten Runde von Präsidentschaftswahlen. Wie steht es wirklich um Frankreichs Rang in der Welt?

Wie steht es um Frankreich? - Kultur

„Ich erkenne die Mauern und die Straßen nicht wieder, vom Atelier ist nichts mehr übrig“, singt Charles Aznavour in „La Bohème“. „In seinem neuen Dekor sieht Montmartre traurig aus und der Flieder ist tot.“ Von der Bohème, der jungen Künstlerszene auf der Anhöhe im Pariser Norden, die Aznavour 1965 besang, ist schon am Ende des Chansons nicht mehr viel übrig. An der Place du Tertre, wo einst Picasso wohnte, drängeln sich die Massenmaler heute für das schnelle Geschäft mit den Touristen. Junge Künstler zieht es heute häufig nach Berlin, weil die Szene lebendiger ist und die Mieten billiger. So auch der vielgelobte Cyprien Gaillard, der kürzlich den Preis der Freunde der Neuen Nationalgalerie für Junge Kunst bekam. Frankreich konzentriert sich auf die alten Schätze von Monet bis Matisse – davon hat es schließlich genug. Der Louvre ist eines der bedeutendsten Museen der Welt, Paris nach wie vor einer der wichtigsten Kunsthandelsplätze.

Montmartre ist heute eng verknüpft mit Amélie Poulain, der charmanten Heldin aus dem Film von Jean-Pierre Jeunet, die im „Café des deux Moulins“ in der Rue Lepic arbeitet. Vor allem im Kino zeigt Frankreichs zentralistische Kulturpolitik ihre Wirkung: Die Nation steht im Dienst der Kultur, seit 1959 kümmert sich ein ganzes Ministerium um die Förderung und die Verbreitung der französischen Kultur. Dass die Franzosen dies einst mit der „exception culturelle“, der Ausnahmestellung der französischen Kultur, begründeten, ist Teil des Selbstverständnisses. Die meisten Präsidenten hatten ihr kulturelles „projet“: François Mitterrand die Nationalbibliothek, Georges Pompidou sein Museum für moderne Kunst. Gemeinsam mit Valéry Giscard d’Estaing planten sie die Verlängerung der historischen Achse zur La Défense. TV5, drittgrößter internationaler Fernsehsender, soll Frankreichs Kultur in die Welt tragen.

Das funktioniert mal gut, mal weniger gut. In der Mode erfüllt Frankreich seinen eigenen Anspruch auf Weltgeltung: Die gesamte Saison ist auf die Fashion Week in Paris ausgerichtet. Die wichtigsten Luxusmarken der Welt wie Louis Vuitton, Chanel oder Dior sitzen hier. Im Musikbereich bleiben die Erfolge meist auf den nationalen Markt beschränkt – obwohl die Szene aufgrund einer festgeschriebenen Radioquote für französischsprachige Musik sehr produktiv ist. International wird Frankreich noch immer mit den alten Chansons verbunden. Zwar mischt David Guetta gerade die Szene für elektronische Tanzmusik auf, Massentaugliches wie zuletzt ZAZ bleibt aber eher die Ausnahme.

Dass das im Kino anders ist, liegt auch daran, dass es kein Land auf der Welt gibt, das seine Filmproduktion mit Geldern und Gesetzen stärker fördert und schützt als Frankreich. Die TV-Sender müssen Abgaben zahlen und dürfen zudem an bestimmten Abenden keine Filme zeigen – damit die Leute ins Kino gehen. So wechseln sich in den Kinosälen französische und US-Produktionen auf der Beliebtheitsskala ab. Und das Prinzip, mit wenig Aufwand globale Geschichten lokal zu erzählen, funktioniert auch im Ausland. Der internationale Erfolg von „Willkommen bei den Sch’tis“ wird derzeit von „Ziemlich beste Freunde“ noch übertroffen. Seit der Nouvelle Vague, dem Kunstkino der Sechzigerjahre, hat Frankreich nicht aufgehört, anspruchsvolle Filme zu drehen, die auch Einfluss auf das intelligente Publikumskino von heute haben. Und spätestens seit der französische Stummfilm „The Artist“ mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde, ist Frankreich dort angekommen, wo sich das Land kulturell sieht: ganz oben.

Wie steht es um Frankreich? - Europa

Von Altbundeskanzler Helmut Kohl stammt der Satz, er verneige sich dreimal vor der Trikolore, bevor er sich vor Schwarz-Rot-Gold verbeuge. Für Kohl lag darin das Rezept für eine erfolgreiche Europapolitik. Kohls Huldigung der französischen Nationalflagge rührt daher, dass die Rollenverteilung zwischen Frankreich und Deutschland nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 lange Zeit so aussah: Deutschland galt zwar als wirtschaftlicher Riese, aber als politischer Zwerg.

Wer Kohls scheinbar kuriosen Satz von der Trikolore verstehen will, muss wissen, dass die europäische Nachkriegsgeschichte auch die Geschichte von der Aussöhnung zwischen den beiden „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich ist. Nach dem verbrecherischen Irrsinn der Nationalsozialisten war es Frankreich, das den Deutschen die Hand reichte. Ob die Aussöhnung gelingen würde, war in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs sicher. Den Durchbruch schafften schließlich Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im Jahr 1962. Die beiden feierten damals in der Kathedrale von Reims gemeinsam eine Messe. Der gotische Bau, im Ersten Weltkrieg das Ziel deutscher Artillerieangriffe, gilt in Frankreich als Nationalsymbol. Umso eindrücklicher wirkte damals, vor einem halben Jahrhundert, das Bild des Kanzlers aus Bonn und des Staatschefs aus Paris in der französischen Krönungskirche.

Seither haben deutsche Regierungschefs und französische Präsidenten für das deutsch-französische Verhältnis und die Geschicke Europas stets eine entscheidende Rolle gespielt. An symbolischen Bildern, die den Stand der deutsch-französischen Aussöhnung dokumentierten, gab es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten keinen Mangel: Der Handschlag Kohls und François Mitterrands über den Gräbern von  Verdun, das vertraute Gespräch Helmut Schmidts und Giscard d’Estaings bei zahlreichen Gipfeltreffen, die geradezu stürmische Umarmung Gerhard Schröders und Jacques Chiracs am 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 2004. Inzwischen sind Deutschland und Frankreich so eng miteinander verzahnt wie sonst keine anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union – mit einer deutsch-französischen Brigade in Müllheim, dem deutsch-französischen Fernsehsender Arte in Straßburg, dem deutsch-französischen Geschichtsbuch, dem Verbund der Deutsch- Französischen Hochschule. Nicht zu vergessen das deutsch-französische Jugendwerk, an dessen Austauschprogrammen seit 1963 mehr als acht Millionen junge Deutsche und Franzosen teilgenommen haben.

Während Deutschland und Frankreich nach dem Krieg immer enger zusammenrückten, begannen sich aber die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Ländern allmählich zu verschieben. Es fing damit an, dass sich das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands im Nachbarland mehr und mehr auf die Tagespolitik auswirkte. So musste der Sozialist Mitterrand, der bei seiner Wahl zum Staatspräsidenten 1981 noch mit einem freigiebigen Ausgabenprogramm angetreten war, zwei Jahre später einen harten Sparkurs nach deutschem Muster durchziehen. Nach dem Fall der Mauer machte Frankreich dann obendrein die schmerzliche Erfahrung, dass auch sein geostrategischer Einfluss schwand: Die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten, die seit 2004 der EU beigetreten sind, sehen nicht in Frankreich, sondern eher in Deutschland oder in Großbritannien ihren Mentor.

Das vorerst letzte Kapitel der deutsch-französischen Beziehungen in Europa steht ganz im Zeichen der Euro-Krise und der beiden Protagonisten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Das aktuelle deutsch-französische Duo ist, anders als ihre Vorgänger, nicht mehr durch die Kriegserfahrung geprägt worden und geht die Zusammenarbeit entsprechend pragmatisch an. Nicolas Sarkozy blieb in der Schuldenkrise nicht viel anderes übrig, als seine Haushaltspolitik auf Gedeih und Verderb an Deutschlands Konsolidierungskurs zu koppeln. Dennoch glaubt Claire Demesmay, Frankreich-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), nicht daran, dass Frankreichs Bedeutung in der Europäischen Union dadurch grundlegend geschwächt ist. „Durch die Krise hat Frankreich wieder an Einfluss gewonnen“, sagt sie. Zwar sei es schon richtig, dass die gesamte EU durch die Schuldenkrise jetzt „deutsch“ geworden sei – das stimme aber nur angesichts des allgegenwärtigen Zwangs zum Sparen. In anderer Hinsicht habe sich aber auch ein Europa à la française etabliert. Schließlich sei es noch vor zwei bis drei Jahren undenkbar gewesen, dass die Europäische Zentralbank die Anleihen kriselnder Euro-Staaten aufkauft. Erst der französische Einfluss habe dies möglich gemacht, sagt sie.

Falls François Hollande die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte, wird der Sozialist nach der Ansicht von Claire Demesmay alles daran setzen, wieder eine „Symmetrie“ im Verhältnis der beiden Staaten herzustellen. Dabei bieten sich für Hollande zwei Möglichkeiten an, sagt die Frankreich-Expertin: Entweder könne er einen Kurs verfolgen, der dazu führt, dass Frankreich seine Bestnote am Kreditmarkt wieder zurückerhält, welche die Rating-Agentur „Standard & Poor’s“ der Nation im Januar entzogen hat. Oder Paris sucht innerhalb der EU nicht nur den Schulterschluss mit Deutschland, sondern versucht, seine Forderung nach stärkeren Wachstumsimpulsen in der Euro-Zone auch mit den Krisenländern Spanien, Portugal und Griechenland an seiner Seite durchzusetzen. Das nächste Kapitel der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte verspricht spannend zu werden.

Wie steht es um Frankreich? - Aussenpolitik

Wer in Cherbourg in der Normandie das Meeres-Museum „Cité de la Mer“ besucht, kann nicht nur Rochen streicheln und Tropenfische bestaunen, sondern sich auch das Innenleben des Atom-U-Boots „Le Redoutable“ erklären lassen. Rund 200 000 Menschen steigen Jahr für Jahr in den 128 Meter langen Stahlkoloss. Sie bekommen nicht nur eine Ahnung von der Enge an Bord des Bootes, das 1967 unter den Klängen der „Marseillaise“ in Gegenwart des damaligen Präsidenten Charles de Gaulle zu Wasser gelassen wurde und anschließend über zwei Jahrzehnte lang im Dienst der Nation stand. Sie bekommen auch einen Eindruck von der „Force de Frappe“, Frankreichs Atomstreitmacht.

Seit 1990 hat Frankreich sein Atomwaffenarsenal zwar um die Hälfte reduziert, aber lässt sich die „Force de Frappe“ pro Jahr weiter rund 3,5 Milliarden Euro kosten – der Preis für die rüstungspolitische Unabhängigkeit von den USA. Frankreich ist nach den USA, Russland und China viertstärkste Atommacht der Welt.

Welchen Wert das nukleare Abschreckungspotenzial für Frankreichs Einfluss in der weltweiten Diplomatie hat, ist unter Experten umstritten. „Ohne seine Nuklearstreitmacht könnte Frankreich die Legitimität seines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat nicht aufrechterhalten“, sagt Hans Stark, der Leiter des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) in Paris. Etienne de Durand, Direktor des Zentrums für Sicherheitsstudien am Pariser Außenpolitik-Thinktank Ifri, sieht das anders. Frankreich, sagt er, habe seinen Anspruch auf den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch zahlreiche Auslandseinsätze – von Afghanistan über den Kongo bis nach Libyen – untermauert. Im Festhalten seines Landes an der Nuklearstreitmacht sieht er keinen machtpolitischen Selbstzweck. „Man hört das in Deutschland vielleicht nicht so gerne“, sagt de Durand, „aber das Nuklearpotenzial wird bleiben“. Schon wegen der Abschreckung – etwa gegenüber dem Iran – sei es sinnvoll, an der Atomstreitmacht festzuhalten: „Das Problem stellt sich nicht heute, aber es könnte sich in zehn Jahren stellen.“

Wie steht es um Frankreich? - Sprache

Fastfood heißt „prêt-à-manger“, ein Computer ist ein „ordinateur“, eine E-Mail ein „curriel“. Während die deutsche Sprache inzwischen mit englischen Wörtern durchsetzt ist, haben die Franzosen in vielen Bereichen eigene Wörter gefunden – oder vielmehr erfunden. Frankreich kämpft für seine Sprache und das natürlich von ganz oben: Niemand Geringeres als der Premierminister selbst ist Präsident des „Obersten Rates der französischen Sprache“. Die Académie Française kümmert sich seit 1635 um eine „reine und eloquente“ Sprache. Von Deutschland aus werden die sprachpolitischen Maßnahmen oft belächelt, auch weil der Kampf längst verloren ist: Die „lingua franca“, die ihren Namen einst nicht ohne Grund trug, ist heute das Englische.

Als die Revolutionäre die Menschenrechte formulierten, war das ganz anders. Natürlich taten sie das auf Französisch, der Sprache, die seit der Herrschaft Ludwigs XIV. die europäische Aristokratie und das gehobene Bürgertum bis weit nach Osteuropa hinein sprach. Friedrich II. korrespondierte mit Voltaire und zog die französische Literatur der deutschen vor. Im Vertrag von Rastatt wurde 1714 vereinbart, alle Verträge auf Französisch zu verfassen – und nicht mehr auf Latein. „Für 200 Jahre war das Französische internationale Verkehrssprache“, sagt Jürgen Trabant, Professor für europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs Universität Bremen. „Die Franzosen selbst aber konnten kein Französisch.“ Sie sprachen Okzitanisch, Flämisch, Bretonisch, Baskisch, Elsässisch – das Französische war allein die Sprache der Aristokratie. In der Monarchie spielte das noch keine Rolle, doch die Revolution forderte die Mitbestimmung des Volkes, und dafür musste es die Sprache lernen. „Sprache ist in Frankreich auch deswegen so wichtig, weil es so lange gedauert hat, sie den Franzosen beizubringen“, sagt Trabant. „Endgültig war das erst 1940 gelungen.“

Noch heute schwingt bei allen Sprachmaßnahmen der Mythos vom „genié“ des Französischen mit, den Voltaire einst mit der „natürlichen“ Satzstellung begründete und den Antoine de Rivarol kurz vor der Revolution auf die Spitze trieb. „Was nicht klar ist, ist nicht französisch“, schrieb der Schriftsteller 1784 in seiner „Rede über die Universalität der französischen Sprache“ und folgerte daraus einen natürlichen Anspruch auf Weltgeltung. Noch Nicolas Sarkozy bezog sich in einer Grundsatzrede vor einigen Jahren explizit darauf.

Mit dem Versailler Vertrag, der auch auf Englisch verfasst wurde, beginnt der internationale Abstieg. „An diesem Verlust leiden die Franzosen immer noch“, sagt Trabant, der damit auch den Versuch der Abwehr gegen das Englische erklärt. „Parlez-vous franglais?“ fragte René Etiemble 1964. In seiner Streitschrift beklagte der Sorbonne-Professor die Vermischung des Französischen mit dem Englischen und setzte damit die heute bekannte Sprachgesetzgebung in Gang. Die Verbannung des Englischen aus öffentlichem Raum, Werbung und Sprache ist dabei nur ein Teil der Sprachgeschichte. In der späteren Gesetzgebung geht es vor allem darum, das Französische im Wissenschaftsdiskurs zu erhalten.

Während deutsche Vertreter sich in den EU-Institutionen lieber in gebrochenem Englisch ausdrücken, als die Simultanübersetzung in Anspruch zu nehmen, käme ein Franzose gar nicht auf diesen Gedanken – und entspricht damit im Grunde mehr der Idee der Vielsprachigkeit Europas. Auch aufgrund dieses Selbstverständnisses, das im Zusammenschluss der Frankophonie mündete, gehört das Französische noch immer zu den wichtigsten Sprachen der Welt.

Der einstige Versuch, alle Franzosen zum Gebrauch der Ersatzwörter zu zwingen, scheiterte. In staatlichen Institutionen sind diese jedoch vorgeschrieben. 18 Fachkommissionen arbeiten ständig an der Entwicklung der Wörter, in jedem Ministerium eine. Einige Neologismen, vor allem in der Computersprache, haben sich durchgesetzt. Andere kamen zu spät: Als das Wort palmarès für Hitparade eingeführt wurde, sagten die Jugendlichen längst Charts. Auch wenn das aktuelle Journal officiel empfiehlt: Sagt „liseuse“ und nicht „Reader“, ahnt man, dass dieses Wort wohl keine Erfolgsgeschichte haben wird.

Wie steht es um Frankreich? - Wirtschaft

Groß und blond ist er – natürlich. „Deutsche Ingenieurskunst“, sagt der Schauspieler, in übertrieben betontem Deutsch, und steigt ins Auto, „deutsche Qualität, deutsche Zuverlässigkeit...“, so geht der Werbespot immer weiter, bis eine französische Stimme aus dem Off zusammenfasst: „Man muss nicht deutsch sprechen, um zu verstehen, dass dieser Opel ein echtes deutsches Auto ist.“ Wenig später konterte Renault den nur in Frankreich ausgestrahlten Spot mit einer Persiflage: Im gleichen Dekor spricht ein Franzose, klein und brünett, mit starkem Akzent eine Mischung aus Deutsch und Französisch. „Renault, Qualität auf die französische Art.“

Den Kampf um den unterhaltsameren Werbespot gewinnen ganz klar die Franzosen – beim Verkauf der Autos haben sie allerdings keine Chance. Der international gute Ruf deutscher Produkte ist nur ein Grund dafür, warum das einst ungeliebte Nachbarland östlich des Rheins immer mehr zum Vorbild für Frankreich herhalten muss. Präsident Nicolas Sarkozy schwärmt seit Monaten von der deutschen Wirtschaft, die auch in der Krise nicht an Kraft verloren habe. Von Deutschland lernen, heißt siegen lernen, wollte er sagen. Die Franzosen wollten es nicht hören, Sarkozys Umfragewerte blieben schlecht.

„Es ist ein Trugschluss, dass man das deutsche System einfach kopieren kann“, sagt Jörn Bousselmi, Geschäftsführer der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer in Paris. „Frankreich hat durch seinen Zentralismus ganz andere Voraussetzungen, sowie eine andere Unternehmens- und Entscheidungskultur.“ Seit Jahrzehnten setzt Frankreich auf große Staatskonzerne, der Mittelstand ist verkümmert. Die Industrie befindet sich im Niedergang und trägt heute nur noch 14 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei – im Gegenzug wächst der Dienstleistungsbereich, in dem inzwischen 75 Prozent der Franzosen arbeiten. Ein Fünftel der Arbeitnehmer sind Beamte. „In Frankreich wird die Herausforderung in den nächsten Jahren besonders groß, da die industrielle Basis teilweise verloren gegangen ist“, sagt Jörn Bousselmi. Der Arbeitsmarkt zeigte sich vor allem in Krisenzeiten als zu unflexibel. Die Arbeitslosigkeit stieg im Winter auf über zehn Prozent. Mit großem Neid schauen die Franzosen auf das deutsche Modell der Kurzarbeit.

Nicht nur der Mangel an Industrie, auch das Fehlen eines Ausbildungssystems im Stil der deutschen Lehre erschweren den Berufseinstieg: 22 Prozent der Jugendlichen finden derzeit keinen Job. Die jungen Migrantenkinder in den Vorstädten sind weitgehend ausgeschlossen vom Arbeitsmarkt. Sie reden voller Hass von Sarkozy, der schon als Innenminister die Banlieue mit dem Kärcher säubern wollte. Kein Wunder, dass Frankreichs Jugend die pessimistischste Europas ist. Da das Land traditionell stark auf die Inlandsnachfrage setzt und weniger auf Export, werde die Jugendarbeitslosigkeit in Zukunft zwangsläufig zum Problem, sagt Jörn Bousselmi. „Es besteht die Gefahr, dass eine ganze Generation quasi vom Konsum abgeschnitten wird.“

Es fehlt an Ideen für denWeg aus der Krise – wegen der kleinen, aber starken Gewerkschaften sind Reformen schwierig durchzusetzen. Sarkozy, der vor fünf Jahren angekündigt hatte, das Land umzukrempeln, hat wenig erreicht. Der Rechnungshof forderte, in den nächsten fünf Jahren 100 Milliarden Euro zu sparen. Von Sarkozy, der die Staatsverschuldung während seiner Amtszeit um fast ein Drittel steigerte, ist das nicht zu erwarten. Und sein sozialistischer Gegenkandidat François Hollande hat nicht vor, die Ausgaben zu senken, er will lieber die Einnahmen erhöhen.

Alles schlecht in Frankreich? Mais non! Der Käse! Der Rotwein! So wie Deutschland weltweit berühmt für seine Autos ist, exportiert Frankreich das „savoir-vivre“. Der Weinexport ist 2011 um zehn Prozent gestiegen und brachte mehr als elf Milliarden Euro ein. Französische Luxusgüter haben weltweit einen ausgezeichneten Ruf. „Als Imageträger sind diese Dinge ganz wichtig“, sagt Jörn Bousselmi. Die stark subventionierte Landwirtschaft ist noch immer ein wichtiger Beschäftigungsbereich. Und die Wahl, sagt man, wird letztlich auf dem Land entschieden.

Wie steht es um Frankreich? - Familienbande

Die Zahl der Deutschen, die in Frankreich leben, und der Franzosen, die sich in Deutschland niedergelassen haben, ist überschaubar – es sind mehrere Hunderttausende. Es sind jedenfalls nicht viel im Vergleich zu den Einwanderern, die seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Nordafrika nach Frankreich und etwa ab demselben Zeitpunkt aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind. Aber dennoch gibt es zwischen Deutschland und Frankreich eine zarte Familienbande, die über die Jahrhunderte gewachsen ist – den Kriegen zwischen beiden Ländern zum Trotz.

Zwar sind die Hugenotten, die im 17. Jahrhundert aus Frankreich fliehen mussten und sich nicht zuletzt in Brandenburg-Preußen niederließen, das bekannteste Beispiel für eine Wanderungsbewegung zwischen beiden Ländern. In der jüngeren Geschichte waren es aber unterm Strich nicht Franzosen, sondern vor allem Deutsche, die sich auf der anderen Seite des Rheins eine Existenz aufzubauen versuchten. Das hängt damit zusammen, dass sich die Demografie – ganz im Gegensatz zur heutigen Situation – in Frankreich von 1850 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sehr viel schleppender entwickelte als in Deutschland. Frankreich war auf Handwerker, Tischler und Schuster aus dem Ausland angewiesen. „In erheblicher Zahl“, so Dominik Grillmayer vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg, kamen diese Fachkräfte aus Deutschland. Nicht alle fanden allerdings ein Auskommen in Frankreich. Vor allem unter den ungelernten Arbeitern gab es viele, die in Paris zum Lumpenproletariat gehörten.

Neben den breiten Schichten der Ungelernten und Facharbeiter waren es natürlich auch Künstler und Intellektuelle, die es nach Paris zog, in „die schöne Zauberstadt“, wie sie Heinrich Heine nannte. So wie die Hugenotten eineinhalb Jahrhunderte zuvor aus religiösen Gründen die Flucht aus Frankreich ergriffen hatten, suchte Heine angesichts der deutschen Zensur das Weite – und fand dort unter anderem seine spätere Ehefrau Augustine Crescence Mirat, die er Mathilde nannte.

Für Kulturschaffende aus dem deutschsprachigen Raum ist die Pariser Region stets ein Sehnsuchtsort geblieben. Der Maler Anselm Kiefer, die Schauspielerin Romy Schneider und der Schriftsteller Peter Handke – sie alle gingen irgendwann im Verlauf ihrer Karriere nach Frankreich. Für viele Deutsche, die bis in die Achtzigerjahre ins Nachbarland kamen, war es nach den Worten des deutsch-französischen Historikers Etienne François nicht schwer, ihre nationale Identität abzulegen. Das Leben in Frankreich sei von ihnen häufig „wie eine Befreiung von der deutschen Last“ empfunden worden. Umgekehrt funktioniert das inzwischen auch: Die in Berlin lebende Schriftstellerin Marie N’Diaye, die 2009 mit dem renommierten französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, habe, so François, ihrer französischen Heimat den Rücken gekehrt, weil sie „das Kleinkarierte der französischen Identität nicht mehr ertragen konnte“.

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