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Politik: Land ohne Leitfigur

Von Harald Martenstein

Vielleicht sollte ich erklären, was das überhaupt ist, eine geistige Leitfigur. Eine Leitfigur ist jemand, dem man Durchblick zutraut. Jemand, der zu wissen scheint, wo es langgeht und auf dessen fast immer gut begründete Meinung oder zumindest interessante Analyse man gespannt ist, vor allem als jüngerer Mensch. Nehmen wir an, etwas Ungewöhnliches passiert. Man registriert das, aha, etwas Ungewöhnliches, und nach ein paar Minuten oder vielleicht erst nach einer Stunde denkt man: „Mal sehen, was X dazu meint.“ Die Leitfigur hat etwas geleistet, sie ist erfolgreich, aber sie hat nicht nur zu ihrem Spezialgebiet etwas zu sagen, sondern zu fast allem.

Nach dem Krieg gab es auf diesem Gebiet die Intellektuellen und Großschriftsteller. Zuerst Leute wie Thomas Mann oder wie Brecht, später Leute wie Böll, Grass, Enzensberger, Christa Wolf, Biermann und noch ein paar. Aus Gründen, die schon oft benannt worden sind, haben sie diese Rolle verloren, sie sind alt geworden, unglaubwürdig, zu geschwätzig oder zu schweigsam, es gibt neue Themen, die moralischen Frontverläufe sind allzu unübersichtlich, tausend Gründe. Eine Zeit lang, in der Euphoriephase der Neolibs und Neocons, dachte man, dass Wissenschaftler oder Ökonomen die Rolle der Schriftsteller übernehmen, der Ex-BDI- Chef Hans-Olaf Henkel ist im Feuilleton vereinzelt als neuer Enzensberger ausgerufen worden. Aber Henkel hat, wie sich zeigte, ein zu begrenztes Interessenspektrum. Leitfiguren dürfen keine Interessenvertreter sein, keine Anwälte einer Gruppe, das spricht auch gegen Alice Schwarzer.

Dann, klar, hat Harald Schmidt diese Rolle übernommen, der postintellektuelle Fernsehintellektuelle, der inhaltlich schweigende Vielredner. Das ist nun auch vorbei, nicht nur, weil Schmidt in seiner Show eine extrem schwache Phase hat, nicht nur, weil er die Show demnächst mit Oliver Pocher teilt, nicht nur, weil er seine Aura in zu vielen albernen Werbespots verbrannt hat, nicht nur, weil jede Pose sich verbraucht, auch diese, die immer schon etwas von einem genialen Bluff an sich hatte. Das Leben geht weiter, auch das geistige.

Aber wer übernimmt? Günther Jauch? Olli Dittrich? Anke Engelke? Peter Sloterdijk? Nichts gegen diese Personen, aber die sind es halt nicht. Es fällt einem tatsächlich niemand ein. Es ist sonderbar, in einem Land ohne geistige Leitfigur zu leben. Es fühlt sich sonderbar an, aber es geht recht gut.

Schade, dass Loriot schon so alt ist.

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