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Ein einfaches Leben, ehrlich gezeigt: Annemarie Jatzlauk in ihrer Küche.

© Thomas Kläber

Langzeitfotografie - Ausstellungserfolg in Cottbus: Immer mit der Ruhe

Der Langzeitfotograf und die alte Frau mit ihrer Drogerie. Sie stand 60 Jahre lang hinter demselben Cottbuser Ladentresen. Er drückte pro Fototermin nur einmal auf den Auslöser. Von zwei Geduldigen in ungeduldiger Zeit.

Von Sandra Dassler

Etwa sieben Jahre hatten sie gemeinsam. Sahen sich mal in kürzeren, mal in längeren Abständen. Am Ende hat er fast nicht mitbekommen, dass sie gestorben war. Der Fotograf und sein Model – irgendwie haben sie sich gesucht und gefunden. Und beide würden sie an dieser Stelle sanft, aber eindeutig missbilligend die Mundwinkel verziehen. Model? Was für ein Quatsch! Darum geht es doch gar nicht. Das ist ein Begriff aus einer anderen Welt: der schnelllebigen, oberflächlichen, unernsten. Effekthascherei, Mode. Nichts für diese beiden Menschen, die sich nicht nur darin ähnlich sind.

Er hat sie ja auch nicht an einem Tag entdeckt, sondern immer mal wieder bewundert. Wie sie da im Laden stand, die weißgrauen Haare mit einem Tuch zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Im Winter trug sie oft eine helle Strickjacke über dem Pullover und einen dunklen Mantel über der Strickjacke. Weil der Laden keine richtige Heizung hatte, nur den Ofen im Nebenraum. Irgendwann, es muss wohl im Jahr 2006 gewesen sein, hat er sich ein Herz gefasst und gefragt: „Darf ich Sie mal fotografieren?“

Sie hat genickt, das war die Übereinkunft

Sie wollte wissen, wofür, aber damit war er zu diesem Zeitpunkt selbst überfragt. Er wusste nur, wofür nicht: „Nicht für die Presse, nur für mich“, hat er gesagt, und dass er seine Fotos manchmal auch schon ausgestellt habe. „Da hat sie genickt – und das war der Beginn unserer gemeinsamen Zeit“, sagt Thomas Kläber.

Der 59-jährige Mann mit Geheimratsecken, schmaler Brille und Bart steht im Depot des Cottbuser Kunstmuseums „Dieselkraftwerk“, wo nur wenige Zutritt haben. Fast 30 000 Bilder, Plakate und Fotografien lagern hier – Kunstwerke, die besonders anspruchsvoll sind, was Temperatur und Luftfeuchtigkeit anbelangt. Kläber trägt Jeans, Lederjacke und einen unauffälligen Ehering. Fast ein wenig distanziert betrachtet er seine eigenen Kunstwerke – etwa 80 Fotos in verschiedenen Größen – und hört dabei seiner Kuratorin Carmen Schliebe aufmerksam zu. Nur gelegentlich und sehr bedächtig unterbreitet er eigene Vorschläge für seine Ausstellung.

Von 2006 an bis zu ihrem Tod im Jahr 2013 hat der Fotograf Annemarie Jatzlauk, die Inhaberin der Cottbuser Bahnhofdrogerie, mit der Kamera begleitet. „Am Ende der Zeit“ hat er den dabei entstandenen Fotoessay genannt: Bilder von einer Frau, die fast 60 Jahre lang hinter dem Ladentisch ihrer Drogerie stand und unter für Außenstehende manchmal fast schon schmerzhaft einfachen Bedingungen ihr Leben führte.

Ihr Hof wirkte verfallen, hier lebten schon ihre Eltern

„Ich war selbst überrascht, als ich sie das erste Mal zu Hause besuchen durfte“, erzählt Kläber. „Das Gehöft lag außerhalb von Kolkwitz, einem Dorf bei Cottbus, und es machte von außen einen fast schon verfallenen Eindruck.“ Seine Fotos sparen diesen Verfall nicht aus. Den Fokus legen sie aber auf die Frau, die der Küche und dem Garten, dem Herd und der Waschmaschine, den Hunden und Hühnern durch ihre Zuwendung jenen Wert und jene Ordnung gibt, die nur erkennen kann, wer sich wie der Fotograf mit großer Empathie darauf einlässt.

„Das setzt aber voraus, dass sich ein Mensch so öffnet, so öffnen kann, wie Frau Jatzlauk“, sagt Thomas Kläber: „Sie war mit sich und ihrer Umwelt im Reinen, hatte nichts zu verbergen, musste nichts beschönigen – und dass ich ihr bis zum Ende so nah sein durfte, ist ein seltener und wunderbarer Glücksfall.“ Ermöglicht worden sei dies durch eine stille, unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen: „Ich hätte ihr Vertrauen nie missbraucht. Respekt vor den Menschen war mir immer wichtig. Und Frau Jatzlauk war ein Mensch, der Respekt abnötigte.“

Sie hätten gar nicht viel miteinander gesprochen, sagt der Fotograf: „Wenn, dann meistens über die Tiere, sie hat sich immer nach meinem Hund erkundigt.“ So weiß Thomas Kläber nur wenig über das Leben der Annemarie Jatzlauk: dass sie auf jenem Gehöft am Rande von Kolkwitz geboren ist, weil ihre Eltern dort „Knecht und Magd“ waren. Dass sie eigentlich Tierärztin werden wollte, aber dann doch Drogistin wurde. Drei Jahre dauerte die Ausbildung, die künftige Drogistin sollte sich nicht nur in Pharmazie und Kosmetik auskennen, sondern auch in Chemie und Farben.

Ihr Versprechen hielt sie, bis es nicht mehr ging, mehr als 40 Jahre lang

Als der Besitzer der Drogerie 1963 plötzlich – wie sie hier sagen – „in den Westen abmachte“, musste sie ihm versprechen, auf seinen Laden aufzupassen. Dieses Versprechen hat sie gehalten, bis sie nicht mehr konnte. Genauso zuverlässig wie sie die ihr anvertrauten Tiere und die sie umgebenden Menschen betreut hat. Und die Gräber – wie das des ehemaligen Kolkwitzer Pfarrers. „Wenn sie eine Aufgabe übernommen hatte, musste die auch erfüllt werden“, sagt Thomas Kläber.

In seine Danksagung für die Ausstellung im Dieselkraftwerk hat er geschrieben, dass Annemarie Jatzlauk mit ihrer Bescheidenheit und ihrem außergewöhnlichen Pflichtgefühl „irgendwie aus der Zeit gefallen“ schien. Ein wenig gilt das wohl auch für ihn selbst, mit seinem stillen, langsamen Arbeiten, seinem ungehetzten Blick, der Heimatverbundenheit.

Unbeirrt und unerschüttert - ihre Lebensentwürfe ähneln sich

Ein einfaches Leben, ehrlich gezeigt: Annemarie Jatzlauk in ihrer Küche.
Ein einfaches Leben, ehrlich gezeigt: Annemarie Jatzlauk in ihrer Küche.

© Thomas Kläber

1955 wurde er in dem 600-Einwohner-Dorf Beyern im Süden Brandenburgs geboren. Im Alter von zwölf Jahren machte er die ersten Fotos auf dem Hof seiner Eltern. Später entschied er, daraus seinen Beruf zu machen. In den 1980er Jahren studierte Kläber an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sozialdokumentarische Fotografie, bei der Menschen im Mittelpunkt stehen, hat ihn schon da fasziniert. Mit seiner Diplomarbeit begann er seine Serie Landleben, ein großer Zyklus, der sich bis weit über die 1990er Jahre erstreckte.

Kläber ist zwar nicht nicht wie Annemarie Jatzlauk sein Leben lang in seinem Heimatort geblieben, wohnt aber wie sie sein Leben lang auf dem Land, inzwischen sogar im selben Dorf: Kolkwitz. Er ist seit 34 Jahren mit derselben Frau verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne, die in Stuttgart und Bonn leben. Mit seinen Langzeitbeobachtungen hat er einige Preise – unter anderem auch in Japan und Finnland – gewonnen und ist dem Genre treu geblieben. So wie Annemarie Jatzlauk dem ihren. Als Thomas Kläber 2006 die ersten Bilder von ihr aufnahm, war die Drogerie immer noch so eingerichtet wie in den 50er Jahren: Holzregale, die längst nachgedunkelt waren, Glasvitrinen und bauchige Flaschen für die verschiedenen Arzneien. Die Einrichtung hat gemeinsam mit Annemarie Jatzlauk die Jahrzehnte in der Mangelwirtschaft der DDR überstanden, die Wirren der Wendezeit und auch die Zeit danach, als in Cottbus wie überall die Schlecker- oder Rossmann-Märkte öffneten.

Sie verkaufte Ostprodukte, das war ihre Nische

Unbeirrt und unerschütterlich beriet Annemarie Jatzlauk ihre Kunden immer weiter, kompetent und immer freundlich. „Frau Bitteschön, Dankeschön“ nannten sie viele Cottbuser. Sie hatte sich angesichts der Westkonkurrenz auf Ostprodukte spezialisiert, die wieder gefragt waren: Elsterglanz, den Universalreiniger, Wofacutan für empfindliche Kopfhaut, Zymat, ein Waschmittel mit bioaktivem Flecklöser.

Die Cottbuser Bahnhofdrogerie befand sich nicht etwa am Bahnhof, sie grenzte nur an die Bahnhofstraße. Dazwischen lag „die längste Brücke Europas“, wie einheimische Taxifahrer ihren ortsfremden Kunden gern erzählen. Und angesichts ungläubiger Mienen grinsend hinzusetzen: „jedenfalls von der Bauzeit her“.

Im Erdgeschoss der wie alle umliegenden Häuser etwas heruntergekommenen Jugendstilvilla standen Annemarie Jatzlauk ein paar Räume zur Verfügung. Die uralte Registrierkasse mit der großen Kurbel diente zur Aufbewahrung der wechselnden Währungen: Reichsmark, Alliierte Militärmark, Mark der Deutschen Notenbank, Mark der DDR, Deutsche Mark und schließlich Euro.

Warten auf den idealen Moment

Wie zu Beginn ihrer Lehrzeit ein halbes Jahrhundert zuvor rechnete Annemarie Jatzlauk immer noch mit dem Kopf – so wie Thomas Kläber immer noch meist mit nur einer Kamera und einem Objektiv fotografiert. Und immer noch nur dann auf den Auslöser drückt, wenn er glaubt, den richtigen Moment erwischt zu haben. „Als durch die digitale Fotografie die Kosten plötzlich keine Rolle mehr spielten, habe ich mal versucht, ob es anders geht“, sagt er: „Aber ich habe schnell gemerkt, dass man sich – wenn man öfter draufdrückt – letztlich weniger konzentriert, weil man glaubt, den entscheidenden Moment durch die vielen Klicks schon erwischen zu können. Das ist aber nicht so.“

Von Vorteil sei die digitale Technik insofern, als man sofort nachprüfen könne, ob man auch wirklich den richtigen Augenblick festgehalten habe, sagt Kläber. Deshalb fotografiert er inzwischen digital, ob Film oder Chip spiele keine Rolle, wichtig seien die Technik und die Geduld. Der ideale Moment sei wie die ideale Welle: Ein Sekundenbruchteil entscheidet, ob man ihn oder sie erwischt.

Auch bei Annemarie Jatzlauk hat es manchmal gedauert, bis Thomas Kläber auf den Auslöser drückte. Dann, wenn sie längst vergessen hatte, dass eine Kamera auf sie gerichtet war. Wenn sie auf ihrem Kartoffelfeld kniete oder die Hunde am Abendbrottisch fütterte.

Jedes Bild solle für sich funktionieren, sagt er

Das braucht Zeit, Entschleunigung. Der Rest sei Erfahrung, sagt Kläber. Jedes Bild müsse für sich funktionieren, jedes Bild solle seine eigene Geschichte erzählen. Und dass neben dem Menschen nicht zu viel anderes auf einem Foto sein darf – nur das, was umrahmt, nicht das, was ablenkt.

Kläber stellt nicht das erste Mal im deutschlandweit bekannten Cottbuser Dieselkraftwerk aus, aber noch nie war das Interesse im Vorfeld so groß, haben so viele Zeitungen berichtet. Die Ausstellung gilt schon kurz nach der Eröffnung als eine der bestbesuchten.

Sie war mit sich zufrieden - wer sagt das heute schon noch von sich?

Ein einfaches Leben, ehrlich gezeigt: Annemarie Jatzlauk in ihrer Küche.
Ein einfaches Leben, ehrlich gezeigt: Annemarie Jatzlauk in ihrer Küche.

© Thomas Kläber

„Ich denke, es gibt so eine Art Sehnsucht danach, genauer hinzuschauen“, sagt Thomas Kläber: „Sich mehr Zeit füreinander zu nehmen. Und respektvoll miteinander umzugehen.“ Vielleicht geht es ja tatsächlich um mehr Langsamkeit und mehr Achtsamkeit. Vielleicht kommen so viele Menschen in die Ausstellung, weil sie längst ahnen, dass tausend Freunde auf Facebook, tausend Follower auf Twitter und all die schnellen Handyfotos Marke: „Das bin ich“, „Da bin ich“, „Das mache ich gerade“ sie nicht vor der Vergänglichkeit bewahren.

Die Kunst kann das auch nicht, aber sie macht die Vergänglichkeit spürbarer. Und die Gegenwart damit wertvoller, zu wertvoll, um sie mit Oberflächlichkeiten zu vertun. Kläbers Kuratorin Carmen Schliebe sagt, sie glaube, dass das Interesse an der Cottbuser Ausstellung auch daher rühre, dass ein einfacher Mensch ganz ehrlich dargestellt wird. Und dass ausgerechnet ein so einfacher Mensch – was heute immer schwerer zu fallen scheint – mit seinem Leben zufrieden ist.

Viermal am Tag fuhr sie zwischen Drogerie und Hof hin und her

So jedenfalls habe sich Annemarie Jatzlauk immer geäußert, sagt Thomas Kläber. „Für uns mag das schwer nachvollziehbar sein, aber sie fand ihr Leben in Ordnung.“ Seine Fotos belegen das. Zeigen eine einfache und stolze Frau, die im Kirchenchor singt, ihren Garten bestellt, kocht, wäscht und ihre Tiere versorgt: die Hunde, die Hühner und die Kuh, die sie vor dem Schlachter gerettet hat. Viermal am Tag legt sie bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad die etwa fünf Kilometer von ihrem Gehöft zu ihrer Drogerie zurück. Auf Radwegen, die Anfang der 1990er Jahre entstanden, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die vielen Erwerbslosen, die es nun plötzlich gab. Das dabei aufgenommene Foto strahlt Ruhe aus: Eine alte Frau fährt auf einer völlig verschneiten Straße, die von kahlen Bäumen gesäumt ist. Der Himmel ist leicht gerötet, es muss morgens sein. Die Frau hat eine Tasche am Lenker und eine andere im Fahrradkorb.

Um acht Uhr hat Annemarie Jatzlauk ihre Drogerie geöffnet. Um zwölf Uhr mittags ist sie nach Hause geradelt, um das Vieh zu füttern und selbst etwas zu essen. Um 14 Uhr war sie wieder im Laden, montags bis freitags und jeden zweiten Sonnabend. Ob es regnete oder schneite, 35 Grad Hitze herrschten oder wie an dem Tag, als das Foto entstand, frostige minus 20 Grad. „Ich lebe nun einmal für meine Kunden“, hat sie der örtlichen Zeitung im Jahr 2003 gesagt.

Er erschien immer unangemeldet zum Fotografieren bei ihr

Thomas Kläber hat mit seiner Kamera aber auch eingefangen, worüber sie nicht sprach: Einsamkeit, Sehnsüchte. Auf vielen Bildern sind ihre Plüschtiere zu sehen, von denen sie unzählige sowohl im Haus als auch in der Drogerie hatte.

Einmal kam der Fotograf – wie immer unangemeldet – aufs Gehöft. Annemarie Jatzlauk, die nie verheiratet war und keine Kinder hatte, war im Haus und schlief, und auf der Couch lag aber ein Baby. Es konnte erst wenige Wochen alt sein, war in eine blaue Kinderdecke gehüllt und wurde von einem großen Plüschteddy bewacht. „Ich war total erschrocken“, sagt Thomas Kläber: „Das war zu einem Zeitpunkt, als es Frau Jatzlauk schon nicht mehr so gut ging.“ Erst beim Näherkommen habe er bemerkt, dass es eine lebensechte Puppe war, die der alten Frau das Herz wärmte.

Als es ihr immer schlechter ging, hat sich Thomas Kläber nicht zurückgezogen – auch wenn er keine Serie über das Sterben machen wollte. Diese Aufnahmen tun weh, zeigen den Verfall, die Verzweiflung, aber auch Tröstliches: Die gute Freundin, die jeden Tag kommt und hilft, damit Annemarie Jatzlauk nicht ins Krankenhaus muss. Der Kirchenchor, der das Geburtstagsständchen ins Haus bringt. Die Hunde, die vor und manchmal auch im Krankenbett wachen, treu und alles verstehend – auch, als die alte Frau einfach nicht mehr kann, als ihr Kopf resigniert vornüber sinkt, sie nichts mehr sehen und hören will von dieser Welt: als ihre Zeit vorbei ist.

Die Arme in den Hüften: Das war's jetzt wohl

Auf einem der letzten Fotos ist das Pflegebett leer. Davor steht – mit dem Rücken zum Betrachter – die Freundin, jene Frau, die Annemarie Jatzlauk am Schluss gepflegt hat. Sie hat die Hände in die Seiten gestemmt, jeder hört, was sie denkt: „Das war’s dann also.“

Bei der Beerdigung sang wieder der Kirchenchor, in dem Annemarie Jatzlauk so viele Jahre Mitglied war. „Am Ende der Zeit“, sagte der Pfarrer an ihrem Grab: „Am Ende der Zeit beginnt die Ewigkeit.“

Die Ausstellung läuft bis zum 15. März 2015 im Dieselkraftwerk Cottbus, Uferstraße/Am Amtsteich 15. Weitere Informationen unter www.museum-dkw.de

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