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© EFE

Lateinamerika: Linke Vielfalt

Sozialer, demokratischer, aber in Teilen weiter autoritär – wie Lateinamerika sich in der ersten Dekade des Jahrhunderts verändert hat.

Vor zehn Jahren diskutierte man das Für und Wider von Privatisierungen und Freihandelsverträgen, heute feiert der Staat als Regulator der Wirtschaft ein Comeback. Nach der neoliberalen Dekade und der Phase der Demokratisierung in den 90er Jahren stand die erste Dekade des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika im Zeichen von Bürgerbewegungen und linker Politik. Den Auftakt des Linksrucks machte Venezuelas Präsident Hugo Chavez, der seit 1999 regiert, es folgten linke Siege in Chile, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Uruguay, Ecuador, Nicaragua, Honduras, Paraguay, Guatemala und El Salvador.

Der Linksruck läutete das Ende der neoliberalen Konzepte des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ein, die zwar wirtschaftliche Stabilität, aber keine soziale Gerechtigkeit gebracht hatten. Heute hat sich der Einfluss dieser Institutionen in Lateinamerika auf ein Minimum reduziert. Es ist ein Zeichen der Emanzipation in Ländern, die oft bis in die 80er Jahre hinein von Militärdiktaturen regiert und in denen „kommunistische Umstürzler“ gnadenlos verfolgt wurden. Es hat daher hohen Symbolwert, wenn heute Menschen wie Luiz Inacio Lula da Silva und Pepe Mujica (Uruguay) an der Macht sind, die in der Diktatur wegen ihrer politischer Gesinnung im Gefängnis saßen.

Doch wie erfolgreich sind die linken Konzepte? Beim Wirtschaftswachstum stehen laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) von 2000 bis 2008 Kuba, Peru und Panama ganz oben, auf den hintersten Rängen finden sich Guatemala, El Salvador und Haiti. Bei der Armutsverringerung waren zwischen 2000 und 2007 laut UN Chile, Brasilien und Costa Rica Spitzenreiter, während Guatemala, Paraguay und Peru am schlechtesten abschnitten. In Sachen Transparenz haben sich nach dem internationalen Index von Transparency International Chile, Uruguay und Costa Rica zwischen 2001 und 2009 als die saubersten Länder etabliert, während Haiti und Paraguay zu den Schlusslichtern zählen – egal, wer an der Macht ist. Dramatisch verschlechtert hat sich Venezuela, das 2001 noch auf Rang 69 lag und 2009 auf den 162. Platz abrutschte.

Geht man nach Umfragewerten, so stehen in der Gunst der Bürger die Chilenin Michelle Bachelet und der Brasilianer da Silva ganz oben mit jeweils über 80 Prozent Zustimmung. Publikumssieger wäre also wohl das „rosarote“ Modell, deren herausragendste Vertreter die beiden sind. Während die radikaleren „roten“ Regierungen in Venezuela und Bolivien auf Verstaatlichung setzten, um mehr Kontrolle über die strategisch wichtigen Grundstoffindustrien zu erlangen und sich dabei mit der Wirtschaftselite anlegten, vertraten Bachelet und da Silva eine gemäßigte, sozialdemokratische Politik, die weder die freie Marktwirtschaft noch die oligopolistischen Wirtschaftsstrukturen infrage stellte. Die durch Rohstoffboom und Wirtschaftswachstum gestiegenen Haushaltseinnahmen steckten alle linken Regierungen in Sozialprogramme. Entsprechend hat sich die absolute Armut verringert. Während 2002 laut Cepal noch 222 Millionen Lateinamerikaner arm waren, betrug die Zahl 2007 noch 184 Millionen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich jedoch blieb nahezu unverändert bestehen und ist in manchen Ländern wie Peru, Bolivien und Panama noch gestiegen. Hier setzen Kritiker wie der Weltbankberater Bernardo Kliksberg an. „Das Wirtschaftswachstum trägt zwar zur Armutsbekämpfung bei, aber seine Auswirkungen sind begrenzt in Ländern, in denen der Reichtum extrem ungleich verteilt ist. Hingegen trägt eine auch nur geringe Verbesserung der Einkommensverteilung sehr stark bei zur Verringerung der Armut.“ Der brasilianische Geistliche Frei Betto kritisiert, Länder wie Brasilien und Chile hielten an einem traditionellen, liberalen Wachstumsmodell fest, das zulasten der Umwelt und der sozial Schwächsten gehe. Wie zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft sei Lateinamerika vorrangig ein Rohstoffexporteur. Die Grundvoraussetzungen für sozialen Aufstieg – nämlich eine gute Gesundheitsfürsorge und gute Schulbildung – blieben nach wie vor den Wohlhabenden vorbehalten, die angesichts des desaströsen Zustands der öffentlichen Dienstleistungen auf private Anbieter ausweichen können.

Auch politisch ist die Bilanz gemischt. Mit dem Linksruck einher ging der Aufstieg einer neuen Elite. Herrschten früher über Generationen hinweg immer wieder die gleichen Familien, ist die Welt der Mächtigen nun bunter geworden: In Bolivien regiert der indigene Kokabauer Evo Morales, in Paraguay Bischof Fernando Lugo, in Brasilien der Gewerkschafter da Silva, in Chile die Kinderärztin Bachelet, in El Salvador der Journalist Mauricio Funes. Der traditionelle „Hinterhof“ der USA ist aufmüpfig geworden. Lateinamerika hat seine Wirtschaftsbeziehungen diversifiziert und besonders nach Asien ausgebaut. Nur noch ein Viertel der Exporte geht in die USA. Brasilien schaffte unter da Silva den Aufstieg zur unangefochtenen Regionalmacht.

Doch gleichzeitig zeigten Staatschefs wie Morales, Chavez, der Ecuadorianer Rafael Correa und der Nicaraguaner Daniel Ortega autoritäre Neigungen, gängelten die Justiz und kritische Medien, diskreditierten und verfolgten oppositionelle „Oligarchen“ und versuchten, alle staatlichen Instanzen ihrem politischen Modell zu unterwerfen. Daher standen diese Länder mehrfach am Rand des Bürgerkriegs. In Honduras führten die Spannungen sogar zu einem Putsch gegen den linken Präsidenten Manuel Zelaya. Auslöser war eine von ihm angestrebte Verfassungsänderung, die ihm die Wiederwahl ermöglichen sollte. Das hatten vor ihm schon Chavez, Morales und Correa praktiziert – wogegen Bachelet und Lula die Institutionen über den persönlichen Machterhalt stellten und damit die Tür öffneten für eine mögliche Rückkehr bürgerlich-liberaler Politiker an die Macht.

Doch auch die wurden von der linken Dekade geprägt: Einer wie der Multimillionär Sebastian Pinera in Chile verspricht heute Sozialprogramme und eine Förderung des Mittelstands – mit Sparkurs und Freihandelsabkommen kann man heutzutage offenbar keine Wahl mehr gewinnen in Lateinamerika.

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