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Politik: Lebensberatung in Mannheim

Merkel wünscht sich von den Deutschen beim Katholikentag weniger Nörgelei und mehr Mut zu Veränderung.

Es hätte aktuellere Themen gegeben als den demografischen Wandel. Zwei Tage nach dem Rauswurf von Umweltminister Norbert Röttgen erweist es sich aber geradezu als weitsichtig, dass sich die Bundeskanzlerin als Thema für ihren Auftritt beim Katholikentag in Mannheim nicht die Energiewende oder den Klimawandel vorgenommen hat. Sondern den „Aufbruch in eine Gesellschaft des langen Lebens“. Damit passt sie genau hinein in diesen Katholikentag. Fragen danach, wie heute und im Alter ein gutes Leben aussehen könnte, treiben die Menschen um.

Vergangenes Jahr beim Kirchentag in Dresden tauchte der Begriff „Lebensstil“ zum ersten Mal auf. Dieses Jahr zieht er sich wie ein Leitfaden durchs Programm – mit einer neuen Dringlichkeit und konkreter: Was müssen wir in unserem Leben ändern? „Der Fortschritt braucht eine neue Qualität“, sagt Alois Glück, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, das zum Katholikentag einlädt. „Nicht ein ‚immer höher, schneller, weiter’, sondern ein schonender Umgang mit den Gütern dieser Erde und eine sozial verträgliche Entwicklung muss unser Ziel sein.“ Er sagt es jedem und jeden Tag hier in Mannheim; es ist sein Thema, es brennt ihm auf den Nägeln. Es bleiben nur ein paar Jahre zum Umsteuern, fürchtet Glück, „sonst werden wir von der Entwicklung überrollt und es wird katastrophale Brüche in der Gesellschaft geben“.

„Wir können so nicht weitermachen“, sagt Glück auch an diesem Freitag zu Angela Merkel, als er sie im Gustav-Mahler-Saal im Kongresszentrum begrüßt. Merkel trägt Grün an diesem Tag und zitiert Albert Schweitzer: „Keine Zukunft vermag gutzumachen, was du in der Gegenwart versäumst.“ Ihr Credo: Den Wandel jetzt gestalten und sich von keinem Risiko allzu sehr irritieren lassen. Die Zukunft bringt sie so auf den Punkt: Die Deutschen werden weniger, bunter und älter, die Senioren fitter und engagierter. „Jeder muss die Möglichkeit haben, sich mit seinen Talenten und Bedürfnissen in die Gesellschaft einzubringen, auch im Alter“, sagt Merkel, das folge aus dem christlichen Menschenbild. Sie dankt den vielen grauhaarigen Ehrenamtlichen und lobt die Rente mit 67. Erfahrung und Routine würden in der Arbeitswelt unterschätzt, es müsse sich eine „Kultur des langen Arbeitens“ etablieren.

Im Gespräch mit einer Mutter von zwei Kindern und Soziologen auf dem Podium geht es danach um die berühmte „Rushhour des Lebens“, in der mit Mitte vierzig alles auf einmal zu bewältigen ist: Beruf, Familie, Versorgung der Eltern. Wie kann man die Rushhour entzerren? Es fällt das Stichwort Ausbau der Kindergärten, und Merkel ermahnt die Männer: Sie müssten vielleicht ein bisschen mutiger sein und Chefs um mehr Zeit für die Familie bitten. Unternehmen dürften so was dann aber bitte nicht als Karrierehemmnis werten, sondern im Gegenteil: Wer immer nur am Schreibtisch gesessen habe, eigne sich vielleicht gar nicht mehr so gut als Chef, stellt Merkel in den Raum und fordert: „Wir müssen uns von Gewohnheiten verabschieden.“

Die Kanzlerin sitzt kerzengerade, die Beine aneinandergepresst, entspanntes Sitzen sieht anders aus. Für Zwischenrufe wie „Keine Waffenlieferungen“ und Protestler am Rande der Veranstaltung hat sie heute keine Geduld. Bei anderen Kirchentagen hat sie die Protestierer schon mal aufgefordert, zu sagen, was sie zu sagen haben.

Die Tendenz der Deutschen zum Nörgeln, ihr Beharrungsvermögen (Merkel sagt: „die Gründlichkeit, mit der wir alles machen“), scheint ihr heute auf die Nerven zu gehen. „Wir sollten nicht eine Nation werden, die vorm Fernseher sitzt und genau weiß, wie ein Fußballer zu spielen hat – die aber selbst keinen Ball mehr voranschieben kann“, sagt sie. Jeder müsse eine Entscheidung für sein Leben treffen, dazu stehen und dann „fröhlich“ leben, sagt sie, nicht immer die Probleme herumschleppen „wie einen Sack“, so dass man die Gegenwart gar nicht mehr genießen könne.

Fällt es den Deutschen wirklich so schwer, sich von Gewohntem zu verabschieden? Dazu wurde zwei Stunden vorher in einem anderen Saal spontan abgestimmt: Gehaltsverzicht und mehr Freizeit? Etwa ein Drittel der Arme gingen hoch. Das Auto stehen lassen und kein Flugzeug mehr besteigen? Vielleicht ein Fünftel der Arme. Merkel scheint recht zu haben.

Wenn es um Einschränkungen beim Autofahren geht, hätten viele schnell das Gefühl, ihre Freiheit sei bedroht, sagt Mathias Binswanger, Wirtschaftswissenschaftler und Glücksforscher. Dabei sei das viele Autofahren so unsinnig und schränke unser Streben nach Glück gerade ein. Umfragen hätten ergeben, dass die Menschen dann am unglücklichsten sind, wenn sie im Auto sitzen und zur Arbeit pendeln und zurück. Gleichzeitig gehe Zeit verloren für das, was Menschen glücklich mache, zum Beispiel mit Freunden zusammen zu sein. Das war Wasser auf die Mühlen von Alois Glück. „Wir brauchen einen bewussten Lebensstil, ein bewusstes Konsumieren“, sagte er. „Maßhalten – das ist die größte ethische Herausforderung unserer Zeit.“

Die Zeit der großen ideologischen Kämpfe ist vorbei, nicht nur auf den Kirchen- und Katholikentagen. Technischer und ökonomischer Fortschritt ist wichtig, da sind sich alle einig von links bis rechts. Keiner will mehr zurück zur Scholle. Aber es muss nicht das größte denkbare Wachstum sein. Vielleicht könnte man die Einsichten aus dem Katholikentag auf die Formel bringen: Neugier auf andere Lebensformen und Selbstbegrenzung statt der Gier auf immer mehr. Merkel kann das mit der Selbstbegrenzung persönlich ganz gut – ihre bescheidene Vorstellung vom „gesegneten Lebensabend“: „Ich möchte am Tisch der Gesellschaft gelitten werden – auch wenn ich dann mal nicht mehr so mithalten kann.“

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