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Unter Druck. In den Textilfabriken Chinas ist der Stress groß und die Bezahlung überschaubar. Viele Frauen vom Land finden hier ihren ersten Job, um T-Shirts zu produzieren, die dann für unter fünf Euro auf europäischen Märkten verkauft werden.

© picture alliance / dpa

Lebensmittelskandale: Wie viel Macht haben die Verbraucher?

Durch Konsumverweigerung geraten Firmen unter gewaltigen Druck. Doch nicht immer führt dieses Mittel zu Veränderungen. Es gibt Branchen, die Proteste im Internet oder ganz real einfach aussitzen können. Vor allem, wenn es keine Alternative gibt.

Nie hatten Verbraucher mehr Möglichkeiten, sich über die Produkte zu informieren, die sie kaufen. Für geradezu jedes Konsumgut finden sich Vergleichsportale im Internet. Doch was dort verglichen wird, ist oft genug nur der Preis. Wer mit Produktionsbedingungen, Umweltauswirkungen oder auch nur der Funktionalität von Gütern unzufrieden ist, hat jedoch im Internet viele Möglichkeiten, zu protestieren oder andere potenzielle Kunden zu warnen.

Ethischer Konsum ist nicht erst seit der Erfindung der LoHas (Lifestyle of Health and Sustainability, in etwa: gesunder und nachhaltiger Lebensstil) in. Die Kirchen sind schon viel früher auf die Idee gekommen, die Folgen des Konsums zu hinterfragen. Mit Produkten, die über die Fairtrade-Organisationen vertrieben werden, soll das Geldausgeben sogar etwas Gutes bewirken. Der Dresdener Technikphilosoph Professor Bernhard Irrgang sagt, dass ethisches Verhalten von Verbrauchern wie Firmen der Gemeinschaft insgesamt zugute komme. Was ethisches Verhalten verhindere, seien meistens „kurzfristige Kosten-Nutzen-Analysen“, stellt Irrgang fest. Die Einsicht in den langfristigen Nutzen ethischen Verhaltens werde bedroht von „tatsächlichen und vermeintlichen Sachzwängen“.

Verbraucherproteste oder gar -boykotte sind oft erfolgreich, denn große Skandale „können sich die wenigsten Firmen heutzutage noch leisten“, sagt Bernhard Irrgang. Vor mehr als zehn Jahren hat die Aufregung über den Rinderwahn den Fleischkonsum der Deutschen kurzzeitig gesenkt. Ob das wegen Pferdefleischs in Fertigprodukten auch passiert, lässt sich noch nicht abschätzen. Ähnlich unkoordiniert, aber erfolgreich haben sich hunderttausende Verbraucher an der Tankstelle verhalten, als sie Kraftstoff mit einem höheren Biospritanteil (E 10) schlichtweg verweigerten – und bis heute nicht tanken. Dass das zum wirtschaftlichen Untergang führen kann, hat die Drogeriekette Schlecker im vergangenen Jahr erfahren. Denn der vielfach kritisierte schlechte Umgang mit der Belegschaft hat die Kunden massenhaft zur Konkurrenz getrieben; das Schlecker-Imperium existiert nicht mehr.

Zudem motivieren Nichtregierungsorganisationen Verbraucher zu koordinierten Boykotten. Das hat der Ölkonzern Shell Mitte der 90er Jahre zu spüren bekommen, als die Öl-Förderplattform Brent Spar im Meer versenkt werden sollte. Eine wochenlange Boykottkampagne veranlasste Shell, die Plattform an Land zu schleppen und dort auseinanderzunehmen. Inzwischen ist das Standard. Die „Mutter“ aller Verbraucherproteste ist die jahrelange und schließlich erfolgreiche Boykottkampagne gegen die Apartheid in Südafrika gewesen.

Wenn’s ein bisschen fair sein darf

Amazon fürchtet sich genauso wie andere Unternehmen vor einem Imageverlust. Die Debatte über die Arbeitsbedingungen des Sicherheitspersonals könnten dem Versandhändler schaden.
Amazon fürchtet sich genauso wie andere Unternehmen vor einem Imageverlust. Die Debatte über die Arbeitsbedingungen des Sicherheitspersonals könnten dem Versandhändler schaden.

© dpa

Ein gutes Restaurantessen, das ruhig auch ein paar Euro mehr kosten und gerne auch etwas länger dauern darf – so liegt es in der Natur der Belgier. Der Deutsche Johannes Kleis hat einige Zeit gebraucht, bevor er sich an diesen nicht unsympathischen Aspekt der belgischen Lebenskultur gewöhnt hat. Kleis ist Sprecher des Europäischen Verbraucherverbandes in Brüssel und hat einen guten Überblick darüber, was Konsumenten in den einzelnen EU-Ländern umtreibt. Und dass es zudem zwischen Deutschland und Belgien erhebliche Unterschiede gibt, was die Wertschätzung von Lebensmitteln anbelangt, kann Kleis, der seit 2006 in Brüssel lebt, auch aus privater Erfahrung bestätigen.

Der Pferdefleisch-Skandal hat nicht nur die Hersteller von Fertig-Lasagne wegen der falsch etikettierten Ware in Zugzwang gebracht. Der europaweite Skandal hat auch den Verbrauchern gezeigt, dass sie sich an die eigene Nase fassen müssen: Wer bei Lebensmitteln immer nur auf den Preis und weniger auf die Qualität achtet, darf sich nicht wundern, wenn seinen Tortelloni billigeres Pferdefleisch untergemischt wird.

Die Deutschen gehören dabei im EU-Vergleich zu den Pfennigfuchsern, die ihren Geldbeutel für Lebensmittel eher geschlossen halten. Was der Deutsche Johannes Kleis in Brüssel an Savoir-vivre mitbekommt, lässt sich gut belegen: Nach den Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat machte der Anteil von Nahrungsmitteln und alkoholfreien Getränken an den Konsumausgaben der Privathaushalte in Belgien im Jahr 2011 immerhin 13,4 Prozent aus. In Deutschland waren es gerade einmal 11,5 Prozent. Noch weniger – 9,1 Prozent – wurde in britischen Haushalten ausgegeben, während die Franzosen für ihre täglichen Lebensmittel einen ähnlich hohen Prozentsatz lockermachten wie ihre belgischen Nachbarn.

Dass die Konsumenten in den einzelnen EU-Staaten auch sonst ziemlich unterschiedlich ticken, weiß Verbraucherschützer Kleis anschaulich zu berichten: So ist beispielsweise den Österreichern die Herkunftsbezeichnung vor allem wegen des Umweltaspekts wichtig. Die Verbraucher in Frankreich wollen aus der Etikettierung hingegen ablesen können, aus welcher Region ein Produkt stammt. Den Franzosen geht es dabei nicht zuletzt darum, Arbeitsplätze in der Landwirtschaft in ihrem Land zu erhalten, vermutet Kleis.

Ganz unterschiedlich sind auch die Methoden, zu denen die Verbraucherverbände in Europa im Fall von Negativschlagzeilen greifen, um die Hersteller unter Druck zu setzen. In Spanien wenden sich die Verbraucherschützer häufig mit Petitionen ans Parlament. Als weniger zimperlich gelten hingegen die griechischen Konsumenten-Vertreter; 2008 rief der hellenische Verbraucherverband Ekpizo die Konsumenten zum Milchboykott auf, nachdem der Literpreis auf mehr als einen Euro gestiegen war. Auch das griechische Verbraucherzentrum Kepka schreibt sich auf die Fahnen, dass ein hellenischer Milchproduzent mit den Preisen heruntergehen musste, nachdem die Verbraucherschützer sechs Monate lang mit Pressemitteilungen, Flugblättern und übers Internet zum Boykott aufgerufen hatten.

Es ist bezeichnend, dass in einem europäischen Krisenstaat wie Griechenland, in dem zahlreiche Menschen in die Armut abrutschen, hohe Lebensmittelpreise eher einen Proteststurm der Bevölkerung auslösen können als im vergleichsweise reicheren Norden der Europäischen Union. Dazu passt, dass die einkommensstärkeren Konsumenten in der EU bei ihrer Kaufentscheidung auch viel öfter als Verbraucher im ärmeren Süden darauf achten, unter welchen Arbeitsbedingungen die Artikel produziert wurden, die in ihren Einkaufskorb gelangen. „Verbraucher in den nördlichen Ländern, in Großbritannien und in den Benelux-Staaten wissen, worum es beim Stichwort ‚fairer Handel’ geht“, hat Luke Upchurch vom weltweiten Verbraucherdachverband „Consumers International“ beobachtet. „Das gilt weniger für Konsumenten in Staaten wie Spanien, Portugal und Griechenland.“

Auch die Unternehmenspolitik kann schnell zum Thema für die Konsumenten werden: In Großbritannien gerieten sie heftig in Rage, nachdem ein Ausschuss des Unterhauses im Dezember einen Bericht veröffentlicht hatte, in dem den US-Unternehmen Google, Amazon und Starbucks ihre geringe Zahlungsmoral bei der Körperschaftsteuer zum Vorwurf gemacht wurde. Weil die Unternehmen in der EU unter anderem auf Niedrigsteuer-Länder wie Luxemburg oder Irland ausweichen könnten, entgingen dem britischen Fiskus Einnahmen in dreistelliger Millionenhöhe, lautete der Vorwurf britischer Parlamentarier. Wie sehr die Unternehmen durch die öffentliche Debatte aufgeschreckt wurden, lässt sich daran ablesen, dass Starbucks an einem Samstagabend – nicht unbedingt der typische Zeitpunkt für Unternehmensmitteilungen – verkündete, dass der Konzern seine Praxis bei der Abführung von Steuern in Großbritannien überdenken wolle.

Dabei unterscheiden sich von Land zu Land die Kampagnen, mit denen sich die Verbraucher mobilisieren lassen. Während etwa die Abneigung gegen genveränderte Lebensmittel besonders in Frankreich und Großbritannien nach den Worten von Upchurch „ausgeprägt“ sei, sorgten sich Verbraucher in Deutschland vor allem um die Datensicherheit im Internet. „Die deutschen Verbraucher bilden in diesem Bereich die Speerspitze“, sagt er.

Ob das Internet in Zeiten des zunehmenden Online-Handels den Verbrauchern tatsächlich mehr Macht beschert, lässt Upchurch einmal dahingestellt. Viele Kampagnen gegen einzelne Produkte seien sehr kurzlebig, gibt er zu bedenken. Ganz anders als etwa beim langlebigen Anti-Apartheid- Boykott früherer Jahre dauere heute ein Käuferstreik in der digitalen Welt oft nur wenige Tage. Aber dennoch ist der Verbraucherschützer davon überzeugt, dass sich das Blatt langfristig zugunsten seiner Klientel wendet: „Es gibt eine klare Tendenz: Immer mehr Konsumenten werden sich der Macht bewusst, über die sie verfügen.“

Die Macht der Empörung – und ihre Folgenlosigkeit

Im Supermarkt ist die Unzufriedenheit von Kunden ganz schnell ein Problem des Filialleiters. Im Internet dagegen kann die Aufregung ganz schnell zu einem Massenphänomen werden, das dann aber meist schnell auch wieder vorbei ist.
Im Supermarkt ist die Unzufriedenheit von Kunden ganz schnell ein Problem des Filialleiters. Im Internet dagegen kann die Aufregung ganz schnell zu einem Massenphänomen werden, das dann aber meist schnell auch wieder vorbei ist.

© Eisenhans - Fotolia

Zweimal in Folge hat Amazon in Deutschland im Weihnachtsgeschäft seinen eigenen Rekord gebrochen. 2011 war es der 18. Dezember: Mehr als 2,8 Millionen Artikel wurden an diesem Tag bei Amazon.de bestellt. Ein Jahr später, am 16. Dezember 2012, kauften die Kunden sogar 3,9 Millionen Artikel. Das macht 45 Produkte pro Sekunde. Sind diese glorreichen Zeiten jetzt vorbei? Seit Tagen steht der amerikanische Konzern wegen schlechter Behandlung von Leiharbeitern im weltweiten Empörungssturm.

Die Vermutung liegt nahe, dass das Internet mit seinen Interaktionsmöglichkeiten und Rückmeldungskanälen die Welt etwas besser machen kann. Informationen sind einfach und schnell verfügbar und verärgerten Bürgern stehen unzählige Foren und Kommentarspalten zur Verfügung, um ihrem Unmut Luft zu machen. Die Verbraucher sind mächtig: Sie können Facebook-Profile von Firmen mit Beschimpfungen überschwemmen, sie können Texte, Bilder und Filme blitzschnell viral verbreiten. Nicht nur Pressesprechern und Vorstandschefs bereiten solche unvorhersehbaren Effekte regelmäßig schlaflose Nächte.

Trotzdem wird der „Shitstorm“, von dem Internetexperte Sascha Lobo neulich behauptete, ihn erfunden zu haben, massiv überschätzt. Weil der Begriff mittlerweile inflationär für jede noch so kleine digitale Pöbelei verwendet wird. Und weil selbst die breite Empörung über Missstände zunächst nicht viel bewirkt. Das Thema muss erst über die Bühnen der sozialen Netzwerke hinauskommen, um für Unternehmen wirklich bedrohlich zu werden. Dazu braucht es das Zusammenspiel alter und neuer Medien, sich gegenseitig verstärkende Aufmerksamkeitsströme. Erst wenn Fernsehen, Radio und Zeitungen mit auf den Zug aufspringen, wird aus einem Internet-Aufreger ein Image-Fiasko. Als der deutsche Amazon-Skandal in die US-Medien überschwappte, sah sich die sonst wortkarge Unternehmensleitung zu einer Stellungnahme gezwungen.

Was der Internethändler gerade erlebt, ist bereits über die anderen drei Netzgiganten Facebook, Google und Apple hinweggefegt. Bei Google war es die hysterische Debatte über Google Street View, die das Unternehmen schließlich zu öffentlichem Einlenken und der Einführung einer Widerspruchsfunktion zwang. Das hinderte Google aber nicht daran, Monate später seine Nutzungsbedingungen zuungunsten der Verbraucher zu ändern. Warum auch nicht, mag man sich in den USA gedacht haben. Die Nutzer lieben uns doch sowieso. Knapp 96 Prozent Marktanteil hat die Suchmaschine in Europa – Tendenz immer noch steigend.

Auch das Apple-Imperium, das von einer breiten, fast fanatisch begeisterten Fan-Community getragen wird, scheint immun gegen Kritik zu sein. Zwar reißen Berichte über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in chinesischen Zulieferfabriken nicht ab, doch zu Umsatzeinbrüchen hat das bislang nicht geführt. Facebook wiederum verärgert seine Mitglieder regelmäßig mit ausgelesenen Adressbüchern, fragwürdigen Gesichtserkennungsprogrammen, komplizierten Privatsphäre-Einstellungen oder immer weiter reichenden Verwertungsrechten für Fotos und Daten. Trotzdem steigen auch hier die Nutzerzahlen munter weiter.

Das heißt nicht, dass Skandale gänzlich folgenlos bleiben. Zwar lässt die öffentliche Aufmerksamkeit meist nach ein paar Tagen wieder nach. Zurück bleibt das kollektive Gefühl, dass es unter der Oberfläche der smarten Touchscreen-Welten überhaupt nicht fair zugeht. Der Einzelne kann daran offenbar wenig ändern – trotz Sichtbarkeit und Lautstärke, trotz Twitter und Youtube.

Was die desillusionierten Verbraucher übersehen, ist eine ebenso alte wie banale Geschäftsweisheit: Es gibt keine effektivere Abstimmung als die mit den Füßen. Solange die Nutzer meckern, aber den eingeführten Marken trotzdem weiter treu bleiben, können Konzerne sich durchmogeln: Es gibt PR-Strategien für den Cybernotfall, es gibt Social-Media-Berater, die sich um Dialogsimulationen in sozialen Netzwerken bemühen. Parallel dazu wird an Lippenbekenntnissen gefeilt, die gut klingen und wenig versprechen.

Gut, wenn es Nervensägen gibt, die sich davon nicht beeindrucken lassen. Greenpeace oder der BUND, die den Ressourcenverbrauch zum Thema machen. Oder der Wiener Student Max Schrems, der für Datenschutz bei Facebook kämpft. Diese Aktivisten sind auf Internet, soziale Medien und die Macht der Empörung angewiesen. Vor allem aber auf Verbraucher, die Worten Taten folgen lassen. Wenn Nutzerzahlen und Umsätze einbrechen, werden Produktions- und Geschäftsbedingungen womöglich geändert. Wenn Amazon auch 2013 wieder ein Bombenweihnachtsgeschäft hinlegt – welches Unternehmen sollte sich dann noch vor medialen Shitstorms fürchten?

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