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Teilnehmer einer "Pulse of Europe"-Demonstration auf dem Gendarmenmarkt in Berlin.

© REUTERS

Leggewie legt neues Buch vor: Europa, werde selbstbewusst!

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beschreibt in seinem Buch "Europa zuerst!", welche Möglichkeiten die EU in Zeiten Trumps und Putins hat.

Den stolzen Untertitel „Eine Unabhängigkeitserklärung“ trägt Claus Leggewies brandneues Buch „Europa zuerst!“. Da kommt einem zunächst einmal die „Declaration of Independence“ in den Sinn, mit der die britischen Kolonien 1776 ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erklärten. Die Assoziation ist gewollt: Wenn es nach dem Politikwissenschaftler Leggewie geht, dann ist es diesmal für die Europäer an der Zeit, sich aus der Fixierung auf die von Donald Trump regierten USA und das vom Kremlchef Wladimir Putin beherrschte Russland zu lösen. „So wie Stalin nach 1945 als unfreiwilliger Geburtshelfer der Europäischen Gemeinschaft angesehen wurde, könnten Trump und Putin einmal als Wegbereiter ihrer Renaissance in die Geschichte eingehen“, schreibt er.

Dabei ist ein europäischer Isolationismus keineswegs die Sache Leggewies. Trotz aller europäischen Unabhängigkeitsbestrebungen sollen die Bemühungen weitergehen, Russland im europäischen Haus zu halten, findet er. Und was die USA angeht, so bleibt deren Kompetenz in der Sicherheitspolitik weiterhin gefragt. Leggewie weiß um die Defizite der EU-Außenpolitik.

Wie sollen sich die Europäer in einer Welt der Putins, Trumps und Erdogans positionieren? Um diese umfangreiche Frage zu gliedern, bedient sich Leggewie, bis vor Kurzem Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, zahlreicher maritimer Metaphern. Im ersten Part, dem stärksten Teil des Buches, beschreibt er detailliert, wie eine „autoritäre Welle“ in den vergangenen Jahrzehnten die EU-Staaten Dänemark, Italien – wo Berlusconi zum Vorläufer von „The Donald“ wurde – und Ungarn erfasste.

Drei Szenarien für die AfD

Sodann kommt er auf den „Deichbau“ gegen den Nationalismus in Österreich, Polen, Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Deutschland zu sprechen. Sein Fazit: Die EU steht unter schwerem Druck, kann der autoritären Welle aber standhalten. Für die AfD in Deutschland gebe es drei Szenarien: die Selbstzerlegung aufgrund von Führungs- und Flügelkämpfen, die dauerhafte Verankerung im Bundestag und – unter anderem aufgrund von Terroranschlägen heimgekehrter IS-Kämpfer – das Erstarken zur größten Fraktion im Parlament. Leggewie hält allerdings den Niedergang der Partei für das wahrscheinlichste Szenario.

Nur am Rande streift er das Thema des Islamismus, der für viele Gesellschaften in der EU gleichzeitig zur Herausforderung wie zum Nährboden der Scharfmacher geworden ist. Dabei stehen die Europäer dem politischen Islam keineswegs hilflos gegenüber. Wie eine ernsthafte Auseinandersetzung aussehen kann, zeigt das von Leggewie erwähnte Beispiel des Rotterdamer Bürgermeisters Ahmed Aboutaleb, der dem Islamismus mit wachen Augen begegnet, aber dabei nicht das Spiel der Populisten spielt. Welche Pendants zu Aboutaleb es in Deutschland gibt, erfährt der Leser leider nicht.

Themenwechsel - weg von der Fixierung auf Terror und Islamismus

Andererseits will Leggewie das medial dauerpräsente Thema des Islamismus und der Terrorbekämpfung auch gar nicht vertiefen. Ihm geht es – im zweiten und dritten Teil seines Buches – um einen Themenwechsel, der den Kopf frei macht für die Möglichkeiten eines künftigen Europas: „Zukunftsvisionen sollten die europäische Gesellschaft mehr beschäftigen als die Horrorfantasien von Überfremdung, Terror und Religionskriegen.“

Es liegt inzwischen 30 Jahre zurück, dass Hans Magnus Enzensberger seine literarische Reise durch das Vorwende-Europa mit dem Titel „Ach Europa!“ veröffentlichte. Enzensberger beschrieb damals unter anderem seine Abenteuer beim italienischen Zoll, er hörte ungarischen Dissidenten zu und unterhielt sich mit Polizisten der spanischen Guardia Civil. Viele von Enzensbergers Beobachtungen sind heute veraltet. Das gilt aber nicht für die Idee, die seinem Buch zugrunde liegt: Europa ist ein Gebilde, das von seiner Vielfältigkeit lebt.

Europa am Reißbrett

Leggewie geht einen anderen Weg. Das Europa, das er entwirft, entsteht eher am Reißbrett. Zwar beschreibt auch er die ganze verwirrende Vielfalt von Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen oder Verbänden, die „ein rettendes Ufer anzeigen“ angesichts der weltweiten autokratischen Welle: Die „Autonomia Foundation“ setzt sich für die Integration von Roma in Ungarn ein, die Britin Gina Miller kämpfte für die Beteiligung des Parlaments beim Brexit, die Polinnen Bozena Przyluska und Kamila Majer organisierten Massendemonstrationen gegen die von der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ geplante Verschärfung des Abtreibungsrechts. Allerdings dienen solche Beispiele in erster Linie dazu, die Matrix zu illustrieren, welche dem Autor für die EU der Zukunft vorschwebt: Nachhaltigkeit, Teilhabe und Solidarität – das sind jene drei Leitbegriffe, die Europa den Trumps dieser Welt entgegenstellen sollte.

"Die EU ist eine Dauerbaustelle"

Bedenkenswert ist in jedem Fall Leggewies These, dass der immer engere Zusammenschluss der EU-Staaten – sozusagen der Lebenszweck der Gemeinschaft – heute fraglicher denn je ist: „Die EU ist eine Dauerbaustelle, ein endloses Reformprojekt mit einem Ziel, das sie kaum jemals erreichen kann.“ Angesichts der Politik des permanenten Durchwurstelns, die inzwischen nolens volens zum Markenzeichen der Gemeinschaft geworden ist, müssen die Europäer heute neue Kraft aus den unterschiedlichsten europäischen Graswurzel-Projekten schöpfen, meint der Autor – zu Recht. In Deutschland gilt das für die „Pulse of Europe“-Bewegung, die ebenfalls eingehend analysiert wird. Die Bewegung, die unmittelbar vor der Bundestagswahl wieder verstärkt Präsenz zeigen will, geht auf die Initiative des Frankfurter Anwalts-Ehepaars Daniel und Sabine Röder zurück. Nach der Wahl Trumps hatten sie sich entschlossen, dem zunehmenden Nationalchauvinismus etwas entgegenzusetzen. In Deutschland und darüber hinaus wurden sonntägliche Demonstrationen organisiert, bei denen die Teilnehmer vor den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich in diesem Jahr vor einem Zerbrechen der EU warnten. Die Meinung von Kritikern, die der Bewegung eine unpolitische Richtungslosigkeit vorwerfen, teilt Leggewie nicht: „Das politische Wunder, das Pulse of Europe und andere darstellen, besteht doch genau darin, dass ein solches Unthema wie Europa eine so kräftige Mobilisierung bewirkt, dass es Menschen auf die Straße und in Workshops bringt, die bisher ,völlig unpolitisch’ waren, aber ,etwas’ tun zu müssen meinten, um das Vordringen der autoritären Nationalisten und den Zerfall der Europäischen Union zu verhindern.“

So gesehen kommt Leggewies Buch zum richtigen Zeitpunkt. Wenn Angela Merkel und Martin Schulz in Bierzelten und auf Marktplätzen über Europa reden, erhalten sie Beifall. Frankreich hat mit Emmanuel Macron einen Präsidenten gewählt, der eine pro-europäische Agenda verfolgt. Sicher, neue Klippen für Europa sind bereits wieder in Sicht: Die Parlamentswahlen in Österreich könnten in eine Regierungsbeteiligung der rechten FPÖ münden,und in Italien steht möglicherweise ein Triumph der Euro-Skeptiker bevor. Aber trotzdem ist es nicht falsch, wenn sich die Europäer gerade jetzt auf ihre eigenen Stärken besinnen. Denn ein Zurück in die gute alte Zeit der transatlantischen Beziehungen ist eher unwahrscheinlich – wie lange Trump im Weißen Haus auch regieren mag.

Claus Leggewie: Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 318 S., 22 €.

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