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Wenn die Parteien immer weniger im Volk verankert sind, ist es dann richtig, dass ihre Vertreter die Türwächter der Politik- und Entscheidungsproduktion sind?

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Legitimation in der parlamentarischen Demokratie: Wer entscheidet hier eigentlich - und warum?

Vereine machen Politik, Bürger rufen nach Volksvoten, Parteien verlieren Mitglieder. Sind demokratische Wahlen ein Auslaufmodell? Ein Essay

Als das Verwaltungsgericht Stuttgart am 19. Juli dieses Jahres der Klage der Deutschen Umwelthilfe e. V. (DUH) gegen das Land Baden-Württemberg auf Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart stattgab (Stichwort: Dieselfahrverbote), war dies zweifellos ein großer Tag für die Umweltschützer und vor allem die DUH selbst. War es aber auch ein großer Tag für den Umweltschutz insgesamt, für die Demokratie oder gar das Allgemeinwohl?

Mit ihren gerade einmal 273 Mitgliedern war der Deutschen Umwelthilfe und ihrem Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch gelungen, wozu Parlamente und Regierungen seit Jahren nicht willens oder in der Lage gewesen sind: verschärfte Maßnahmen zur Luftreinhaltung durchzusetzen, um die in der EU-Luftqualitätsrichtlinie geforderten Grenzwerte einzuhalten. Das ist die eine, die gute Seite. Die andere Seite ist, dass die DUH vor allem für Partikularinteressen kämpft. Die Auswirkungen der gerichtlichen Anti-Diesel-Entscheidung auf andere Gesellschaftsbereiche spielen für sie keine Rolle. Dies gilt unmittelbar für eine Verschlechterung der CO2-Bilanz, aber auch für die Erhaltung von Arbeitsplätzen, des Wertschöpfungspotenzials eines Kernbereichs der deutschen Industrie oder des gesellschaftlichen Wohlstands. Erinnert man sich zurück an die „Brent Spar“-Kampagne von Greenpeace im Jahr 1995, als es der Umweltschutzorganisation mit einer ausgeklügelten Aktion gegen den Ölmulti Shell gelang, die Politik zu einem generellen Verbot der Versenkung von Ölplattformen zu bewegen, so drängt sich der Eindruck auf, dass gerade im Bereich der Umweltpolitik (aber nicht nur hier) die relevantesten Anstöße zu Politikänderungen nicht mehr von Akteuren des politischen Establishments ausgehen, sondern von der organisierten Zivilgesellschaft. Gerade im Vorfeld der herannahenden Bundestagswahlen besitzt dieser Eindruck eine gewisse Brisanz.

237 Mitglieder hat die DUH, sollen die wirklich etwas entscheiden?

Wenn gesellschaftliche Anliegen nicht mehr in erster Linie von gewählten Parteien, Parlamenten und Regierungen formuliert, diskutiert und durchgesetzt werden, sondern von den organisierten Interessen der Zivilgesellschaft, steht damit auch die legitimatorische Kraft des demokratischen Wahlakts im Allgemeinen und der Wahl politischer Repräsentanten im Besonderen infrage. Tatsächlich sinkt die Wahlbeteiligung an Bundes- und Landtagswahlen seit geraumer Zeit, während der Ruf der Bürgerinnen und Bürger nach direktdemokratischen und „alternativen“ Formen der Partizipation zuzunehmen scheint. Und während Organisationen wie Greenpeace, der BUND, Amnesty International oder eben die Deutsche Umwelthilfe – zu Recht oder zu Unrecht – mit hohen Vertrauensvorschüssen eines gewichtigen Teils der Bevölkerung bedacht werden, genießen gerade die politischen Parteien und die Mitglieder des Bundestags vergleichsweise nur wenig Vertrauen unter den Bürgern. Zusammen mit den zurückgehenden Parteimitgliedschaften lassen diese Entwicklungen zunehmend Zweifel daran aufkommen, dass Wahlen ihre demokratische Legitimationsfunktion noch hinreichend erfüllen. Sind demokratische Wahlen also ein Auslaufmodell? Sind sie gar der Dieselmotor der modernen Demokratie?

Lassen wir uns kurz auf ein Gedankenexperiment ein: Angenommen, der Deutsche Bundestag beschlösse heute, seine Entscheidungen in der Umweltpolitik der Deutschen Umwelthilfe zu übertragen und alle relevanten Gesetze direkt von ihr und ihren 273 Mitgliedern beschließen zu lassen. Das Dieselfahrverbot würde schon morgen beschlossen; die Überfischung der Meere würde spätestens übermorgen gestoppt, ebenso die Überdüngung der Felder oder der massenhafte Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft. Der Umweltschutz würde, so darf man annehmen, einen Sprung nach vorn machen. Allerdings: Wäre die Übertragung von Entscheidungsmacht auf eine kleine NGO deswegen schon dem Allgemeinwohl aller gesellschaftlichen Interessen verpflichtet – und fänden wir das auch demokratisch legitim?

Die NGOs treten oft hochmoralisch auf. Aber das legitimiert noch nichts

Die meisten von uns fänden dies vermutlich nicht, und dies aus guten Gründen. Die moderne Demokratie beruht in ihrem Kern auf zwei zentralen Grundprinzipien, denen eine solche Kompetenzübertragung zuwiderlaufen würde: der Autonomie des freien und selbstbestimmten Individuums und der Idee der Volkssouveränität, die über legitimierte Verfahren – zum Beispiel über demokratische Wahlen – ausgeübt wird. Hinzu kommt, dass die Ausübung von Herrschaft in der Demokratie gegenüber den Bürgern gerechtfertigt und von diesen legitimiert werden muss. Auch die von NGOs nicht selten mit Sendungsbewusstsein vorgetragene höhere Moral kann diese Verfahren nicht ersetzen. Deshalb müssen die politischen Entscheidungsträger in regelmäßigen Abständen Rechenschaft über ihr Tun ablegen, Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und sich in regelmäßigen Abständen die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Herrschaftsausübung bestätigen lassen. All dies trifft auf unser hypothetisches Gedankenexperiment oben nicht zu. Weder stellt sich die DUH einem Votum der Bürger noch ist sie ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig; weder sind die Bürger an deren Umweltbeschlüssen beteiligt noch können diese auf die Interessen und Präferenzen jener zurückgeführt werden.

Umgekehrt heißt dies nun aber nicht, dass mit unseren Wahlen alles zum Besten stünde. Demokratische Institutionen und Verfahren müssen sich stets daraufhin prüfen lassen, inwieweit sie ihre demokratischen Funktionen noch erfüllen und in reale Politik umzusetzen vermögen. Dies gilt insbesondere für die grundlegenden demokratischen Verfahren, Organisationen und Institutionen wie allgemeine Wahlen, Parteien und gewählte Parlamente. Sie sind allesamt politische Erfindungen des 17. bis 19. Jahrhunderts. Sie besitzen keine Ewigkeitsgarantien, sondern müssen auch im 21. Jahrhundert beweisen, dass sie den normativen Kerngehalt demokratischer Herrschaft, nämlich die kollektive Selbstregierung grundrechtsgeschützter Individuen, noch stützen und weiterentwickeln können. Sie dürfen nicht zu substanzarmen und simulativen Fassaden verkommen. An ihre Stelle dürfen nicht ungewählte Eliten oder elitäre Moralunternehmer treten.

Parteien schrumpfen, die Macht ihrer Vertreter aber nicht. Kann das gut gehen?

Wenn die Parteien immer weniger im Volk verankert sind, ist es dann richtig, dass ihre Vertreter die Türwächter der Politik- und Entscheidungsproduktion sind?
Wenn die Parteien immer weniger im Volk verankert sind, ist es dann richtig, dass ihre Vertreter die Türwächter der Politik- und Entscheidungsproduktion sind?

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Sinkende Wahlbeteiligungen, der Mitglieder- und Vertrauensschwund der Parteien, ihr Macht- und Reputationsverlust, eine aus Sicht der Bürger abnehmende Verantwortlichkeit gewählter Repräsentanten sowie zurückgehende Parteimitgliedschaften lassen durchaus Zweifel daran aufkommen, dass Wahlen ihre demokratische Legitimationsfunktion noch hinreichend erfüllen. Problematisch erscheint vor allem, dass Parteien Vertrauen und Unterstützung der Bürger verlieren, ihre gewählten Vertreter aber nach wie vor die Türwächter der Politik- und Entscheidungsproduktion der Demokratie sind. Die politischen Parteien stecken also gewissermaßen in einer legitimatorischen Klemme zwischen einer nachlassenden Verankerung in der Gesellschaft und sinkendem Vertrauen der Bürger einerseits und einem fast monopolistischen Zugang zu den staatlichen Entscheidungsarenen und Ressourcen andererseits.

Man ist unter diesen Umständen versucht, nach Alternativen zu demokratischen Wahlen Ausschau zu halten. Unter den vielen Varianten alternativer Beteiligungsformen werden derzeit zwei als besonders vielversprechend diskutiert: direktdemokratische Volksabstimmungen sowie deliberative Konsultations- und Entscheidungsbeteiligungen in Bürgerversammlungen, Bürgerräten, Bürgerhaushalten oder „Mini-Publics“. Was ist unter demokratischen Legitimitätsgesichtspunkten von diesen Alternativen zu halten? Volksabstimmungen als vom Demos direkt getroffene Entscheidungen haben aus der Perspektive der Volkssouveränität natürlich eine nicht bestreitbare Legitimität. Demokratietheoretisch sind direkte Entscheidungen des Staatsvolkes jenen indirekten der gewählten Volksvertreter überlegen.

Direkte Demokratie bevorzugt höhere soziale Schichten

Allerdings zeigen sich in der Praxis erhebliche Probleme, die an einer herausragenden Legitimationsleistung direktdemokratischer Verfahren zweifeln lassen. Da ist zum einen die Frage, in welchem Umfang der Demos tatsächlich an „Volks“-Abstimmungen teilnimmt. Nehmen weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten an einer Abstimmung teil oder entscheiden 25 Prozent und weniger der Stimmberechtigten über ein allgemein gültiges Gesetz, dann verblasst das Argument der legitimatorischen Überlegenheit direkter Volksabstimmungen erheblich. Hohe Abstimmungs- und Entscheidungsquoren sind eine legitimatorische Conditio sine qua non von Volksabstimmungen, die in der Praxis meist nicht erreicht werden. Aber gerade sie werden von den Aktivisten der direkten Demokratie als hinderlich gebrandmarkt.

Empirische Analysen zeigen zudem, dass Volksabstimmungen das Problem zurückgehender Bürgerbeteiligung und ansteigender sozialer Selektivität gerade nicht lindern können. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht „das Volk“ stimmt in der Regel ab, sondern lediglich eine soziale Schrumpfversion desselben. In ihr sind die Gebildeten, die Besserverdienenden und die Männer überrepräsentiert. Der politische Demos zeigt also eine noch stärkere soziale Schieflage als sie mit Recht bei Parlamentswahlen beklagt wird. Die direkte Demokratie verstärkt in der Regel die diagnostizierte Krankheit der sozialen Selektion, statt sie zu lindern. Dies ist übrigens – man muss wohl oder übel daran erinnern – am wenigsten der Fall, wenn es bei Volksabstimmungen gegen die EU (z. B. Brexit) oder gegen großzügige Immigrationsregeln geht.

Die faktische Ausgrenzung der unteren Schichten stellt in der Praxis auch ein Problem für manche Bürgerversammlungen, Bürgerhaushalte oder sogenannte Mini-Publics dar. Sind diese nicht repräsentativ zusammengesetzt, was meist der Fall ist, bestehen die gleichen sozialen Ausschlussprobleme wie bei Volksabstimmungen. Ist ihre durch Los erfolgte Zusammensetzung jedoch repräsentativ, gibt es keine überzeugenden Argumente, warum Bürger etwa durch Los zustande gekommenen Laienversammlungen, deren Mitglieder sie nicht kennen, mehr Akzeptanz und Vertrauen entgegenbringen sollten als den von ihnen selbst ausgewählten Parlamenten und Repräsentanten, die über politische Erfahrung verfügen und der Rechenschaftspflicht und dem Transparenzgebot unterworfen sind. Überdies ist fraglich, ob die zum Teil erheblichen informationellen Unterschiede zwischen unterschiedlich gebildeten Bürgern in Fragen der Steuer- und Haushaltspolitik, der Regulierung internationaler Finanzmärkte oder der Klima-, Industrie- und Forschungspolitik in solchen Versammlungen tatsächlich ausgeglichen werden können, wie ihre Befürworter behaupten. Kurzum: Die Legitimationskraft sowohl direktdemokratischer als auch deliberativer Verfahren ist vielleicht in der Theorie groß, in der Praxis jedoch von beschränkter Güte.

Die repräsentative Demokratie steht nicht vor ihrem Ende, aber...

Verglichen damit verfügen die „alten“ demokratischen Institutionen nach wie vor über umfangreichere Formen der Ex-ante-Legitimität (über freie und allgemeine Wahlen) und der Ex-post-Verantwortlichkeit (vor der Opposition, den Medien und den Wählerinnen und Wählern), als sie jede NGO, nichtgewählte politische Körperschaft und jedes direktdemokratische Verfahren hat oder haben kann. Allerdings garantieren allgemeine, gleiche, freie und faire Wahlen noch keineswegs die demokratische Legitimität eines demokratischen Systems. Diese müssen in einen demokratischen Prozess eingebettet sein, der Bürgerbeteiligung mit konstitutionellen Verfahren und fairen Politikergebnissen verbindet.

Für einen Abgesang auf Wahlen, Parteien oder gar die repräsentative Demokratie als Ganze ist es daher deutlich zu früh. Die Grundfesten der repräsentativen Demokratie stehen keineswegs vor ihrer Schleifung, wohl aber vor großen Herausforderungen. Um diesen zu begegnen, müsste an erster Stelle eine Reformierung und Vitalisierung von Parteien, Parlament und Regierung selbst stehen. Hierzu könnten nicht zuletzt außerparlamentarische Akteure wie Greenpeace oder die Deutsche Umwelthilfe beitragen, indem sie ihre Forderungen in das politische System hineintragen und so die etablierten politischen Akteure unter Druck setzen, deren Handlungen infrage stellen und sie im Zweifelsfall zum Umdenken bewegen. Aber damit politische Forderungen zu gesellschaftlich bindenden Entscheidungen werden, müssen sie erst die Legitimationsschleuse des gewählten Parlaments passieren. Allgemeine, gleiche, freie und faire Wahlen sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts der demokratisch überlegene Modus politischer Entscheidungsermächtigung. Sie können, durch welche Moral auch immer, nicht ersetzt werden.

- Prof. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Sascha Kneip ist dort als Wissenschaftler tätig.

Sascha Kneip, Wolfgang Merkel

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