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Politik: Leitkultur - so diskutiert Deutschland: Multikulti light

Die Debatte bekommt ein ungeahntes Tempo: Als Gerhard Schröder im Frühjahr auf der Computermesse Cebit seine "Greencard"-Initiative startete, wollte er von einem Einwanderungsgesetz noch nichts wissen. Nun strebt sein Innenminister Otto Schily eine Regelung noch vor der Bundestagswahl an.

Die Debatte bekommt ein ungeahntes Tempo: Als Gerhard Schröder im Frühjahr auf der Computermesse Cebit seine "Greencard"-Initiative startete, wollte er von einem Einwanderungsgesetz noch nichts wissen. Nun strebt sein Innenminister Otto Schily eine Regelung noch vor der Bundestagswahl an. Die CDU will am kommenden Montag Eckpunkte zur Zuwanderung präsentieren. Auch die Grünen haben eigene Vorschläge angekündigt. Allen gemeinsam ist: Hinter dem Pulverdampf der aktuellen Debatte bewegen die Parteien sich aufeinander zu.

Sieben Millionen Ausländer

Mehr als sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. 30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich eingebürgerten Familien. Die Hälfte der Asylbewerber in der Europäischen Union wollen nach Deutschland, aber nur vier Prozent der hier zu Lande Asyl Suchenden werden auch anerkannt. Diese Zahlen stammen aus der Berliner Rede von Johannes Rau im Mai. Neben der Kanzlerinitiative, für Computerexperten die strengen Einwanderungsregeln zu lockern, war sie der zweite Anstoß in diesem Jahr zur Veränderung und Beschleunigung der Debatte. Drittens kam hinzu, dass ein neuer Teilnehmer mitredet: Die Wirtschaft. Ihr Dringen auf neue Fachkräfte war es, das den Bundeskanzler zum Nachdenken gebracht hat. Darüber hinaus haben fremdenfeindliche Stimmungen und ausländerfeindliche Anschläge, die das politische Hauptthema der parlamentarischen Sommerpause waren, begonnen, sich auf ihre Geschäfte auszuwirken.

Damit kam vor allem die Union unter Druck: Dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, zählte zu ihren Dogmen in der Ära Kohl. Bestrebungen der FDP, aber auch einiger junger CDU-Abgeordneter zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts sind in der vorigen Legislaturperiode gescheitert - an der CSU, aber auch an einer breiten Grundströmung in der CDU. Mit dem Verlust der Regierungsmacht ging auch der Zwang zur unbedingten inhaltlichen Einigkeit verloren. Die Partei konnte sich öffnen. Sie musste sich öffnen, nachdem ihr zentraler Verbündeter in dieser Frage sozusagen ins andere Lager übergelaufen war. Sich einer Veränderung ihrer Position in der Ausländerpolitik zu verweigern, hätte den Versuch erschwert, jene Wirtschaftskompetenz zurückzugewinnen, die Gerhard Schröder der traditionellen "Wirtschaftspartei" CDU so erfolgreich streitig gemacht hat.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums herrschte der größte Bewegungsbedarf bei den Grünen. Für sie war Deutschland längst ein Einwanderungsland. Lange Zeit propagierten sie spiegelverkehrt zur restriktiven Politik der Unionsparteien einen nahezu unbegrenzten Zuzug. Deutschland sollte eine "multikulturelle Gesellschaft" werden. Zwar hat sich die Wahrnehmung der Probleme im Zusammenleben schon länger in ihre Debatte geschlichen, aber die Wende kam erst mit der Wahlniederlage in Hessen im vergangenen Jahr. Dort gewann die CDU mit einer Kampagne gegen eines der zentralen Projekte, das die Grünen in der Koalitionsvereinbarung durchgesetzt hatten: Die doppelte Staatsbürgerschaft.

Die einstige Alternativpartei hat ihren schon in der Opposition begonnenen Wandlungsprozess in der Regierung beschleunigt und mit der Wahl einer neuen professionellen Parteispitze nach dem Wunsch ihres "heimlichen Vorsitzenden" Joschka Fischer zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht. Jenen Pragmatismus, der in der Bundestagsfraktion längst mehrheitsfähig ist, tragen Fritz Kuhn und Renate Künast auch in die Partei. Die Berlinerin beerdigte nun auch offiziell den Traum von "Multikulti". Stattdessen fordert sie "Leitlinien", nach denen sich alle richten müssen.

Auf der anderen Seite geriet das Thema "Ausländerpolitik" in den Selbstfindungsprozess der neuen CDU-Führung. Der gegenüber Parteichefin Angela Merkel ins Hintertreffen geratene Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz fand hier ein probates Profilierungsthema. Mit dem Begriff der "Leitkultur" nahm er eine Terminologie auf, die der heutige brandenburgische CDU-Chef Jörg Schönbohm schon einmal zur Polarisierung genutzt hatte. Diese klare Positionierung dürfte es der CDU nun ermöglichen, sich in Fragen der Einwanderungspolitik weiter zu bewegen. Hier Leitkultur - dort Leitlinien: Unterschiedliche Welten sind das nicht.

Wichtigster Streitpunkt zwischen den Lagern aber bleibt die Frage: Müssen Einwanderungsrecht und Asylrecht zusammen gesehen werden? Oder noch deutlicher: Muss man das individuelle Grundrecht auf Asyl abschaffen, damit man notfalls Bewerber abweisen kann, wenn zu viele wirtschaftlich erwünschte Zuwanderer da sind? Nicht nur die Grünen sagen dazu Nein, auch Bundespräsident Johannes Rau hat sich klar dagegen positioniert. Offiziell ist dies auch die Haltung der größten Regierungspartei SPD. Innenminister Otto Schily hat allerdings gelegentlich erkennen lassen, dass er mindestens für eine Diskussion offen ist.

Wie viele Menschen dürfen kommen?

Der einst grüne Sozialdemokrat hat das für den Fortgang der Debatte formal wichtigste Gremium geschaffen: Unter dem Vorsitz der CDU-Politikerin Rita Süssmuth berief er eine Kommission, die bis zum kommenden Sommer Vorschläge zu Einwanderung und Integration machen soll. Parteiübergeifend zeichnet sich ab, dass Deutschland wie die "klassischen" Einwanderungsländer USA und Kanada in Zukunft eine Quote festlegen soll, wie viele Menschen sich hier zu Lande niederlassen dürfen. Umstritten ist höchstens, wer ihr angehören soll und vor allem: Wie hoch die Quote ist. Der sozialdemokratische Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz hat gerade 20 000 pro Jahr ins Gespräch gebracht - eine Zahl, die eher der Union als den Grünen gefallen dürfte.

Fazit: Falls der Streit um die Einbeziehung des Asylrechts beigelegt werden kann, ist der "Rest" einigungsfähig. Ob die Einigung zu Stande kommt, hängt vom Druck der Wirtschaft, aber auch von den Ergebnissen der Landtagswahlen ab. Wenn die Union hier mit der Ausländerpolitik Mobilisierungserfolge erzielen kann, dürfte sie sich das Thema für den Bundestagswahlkampf 2002 kaum entgehen lassen. Bleibt als Unbekannte noch die FDP: Schon beim Staatsbürgerschaftsrecht und bei der Steuerreform einigte sich der christdemokratische Ex-Partner mit Rot-Grün. Sie wollte eine Steuerung der Einwanderung schon zu Kohls Zeiten. Wenn sie auch in dieser Frage mit der Regierung stimmt, könnte das den Druck auf die Union zum Kompromiss erhöhen - auch wenn damit ein Wahlschlager flöten ginge.

Thomas Kröter

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