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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Brüssel

© dpa/AP/Pool AFP/John Thys

Letzter regulärer Gipfel mit der Kanzlerin: Die EU nach Merkel – was kommt auf die Gemeinschaft zu?

Der EU-Gipfel war einer der letzten von Kanzlerin Merkel. Damit kündigt sich eine neue Ära an – und ein harter politischer Zweikampf zwischen zwei Kontrahenten.

Es war womöglich noch nicht der letzte EU-Gipfel von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Das Brüsseler Treffen, das am Freitag zu Ende ging, lieferte aber schon einen Vorgeschmack auf die Post-Merkel-Ära in der EU. Und da stechen zunehmend zwei Kontrahenten heraus: Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán und sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte.

Rutte machte mehr als jeder und jede andere aus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs deutlich, worum es im Streit um das kontroverse ungarische Gesetz eigentlich geht, das „Werbung“ für Homo- und Transsexualität verbietet. Schon bei ihrem Eintreffen beim Gipfel hatten zahlreiche „Chefs“ betont, dass die Novelle gegen die Grundwerte der EU verstößt. Beim Dinner am Donnerstagabend legte Rutte dem ungarischen Regierungschef dann nahe, den Artikel 50 des EU-Vertrages zu aktivieren.

Im Klartext: Nach der Auffassung Ruttes soll Orbán den EU-Austritt seines Landes einleiten. Nach den Regeln der EU kann ein Land nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, sondern muss - wie seinerzeit Großbritannien - den Austritt von sich aus einleiten.

Offene Schilderung des schwulen luxemburgischen Premiers Bettel

Beim Abendessen gab es nach den Worten von Merkel eine „ernste und tief gehende Diskussion“ über Orbáns umstrittenes Gesetz, das wegen der Vermengung von Pädophilie und Homosexualität in der Kritik steht. Illustriert wurde die Debatte von einer eindrucksvollen Schilderung des offen schwul lebenden luxemburgischen Premiers Xavier Bettel über sein schwieriges Coming-out.

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Merkel betonte anschließend, dass die EU „nicht einfach nur ein Binnenmarkt“ sei. Vielmehr hätten sich ihre Mitglieder „auf der Basis gemeinsamer Werte“ zusammengefunden. Es gebe „ein ernstes Problem“, erklärte die Kanzlerin. Das in den EU-Verträgen niedergelegte Ziel, dass die Mitgliedstaaten eine „immer engere Union“ schaffen sollten, werde nicht nur von Ungarn in Frage gestellt.

Ungarn will die EU „vor Scheinheiligen bewahren“

Auch Rutte kam außerhalb des Konferenzsaals noch einmal auf die Causa Ungarn zurück. Er habe nicht den Eindruck, dass Ungarn der EU den Rücken kehren wolle, sagte der Niederländer. In der Tat erklärte Ungarns Justizministerin Judit Varga per Twitter: „Ungarn will die EU nicht verlassen.“ Vielmehr wolle Budapest die Gemeinschaft „vor den Scheinheiligen bewahren“, fügte sie hinzu.

So wird dieser Gipfel voraussichtlich nicht die letzte Gelegenheit bleiben, bei der Rutte und Orbán verbal zusammenprallen. Beide sind jeweils seit 2010 im Amt des Regierungschefs und damit inzwischen auch schon Veteranen im EU-Geschäft. Schon im vergangenen Jahr waren sie im Streit um den neuen Rechtsstaatsmechanismus zusammengerasselt, der eine Kürzung von Subventionen aus Brüssel ermöglicht. Damals beteuerte Orbán, er verstehe nicht, „aus welchem persönlichen Grund“ der niederländische Premier „mich oder Ungarn hasst“.

Schon im vergangenen Jahr krachte es zwischen Orbán und Rutte

Im Fall des Rechtsstaatsmechanismus, der Anfang dieses Jahres gegen den Widerstand Ungarns und Polens eingeführt wurde, ist Ruttes Haltung keine Überraschung. Der Niederländer gehört in der EU zu denjenigen, die penibel auf eine sparsame Verwendung der EU-Subventionen achten. Eine unsachgemäße Verwendung der Gelder, wie er Ländern wie Ungarn und Polen angekreidet wird, will er keinesfalls mitmachen.

Bei der Auseinandersetzung um den Rechtsstaatsmechanismus wurde im vergangenen Jahr auch die Rolle Merkels als Moderatorin zwischen den West- und Osteuropäern deutlich. In der Sache stellte sich die Kanzlerin zwar hinter die Einführung des neuartigen Sanktionsregimes, aber sie baute Ungarn und Polen gleichzeitig eine goldene Brücke: Bevor der Rechtsstaatsmechanismus scharf gestellt wird, muss der Europäische Gerichtshof (EuGH) über eine Klage der beiden Länder entscheiden.

Im Oktober könnten für Merkel noch weitere Gipfel folgen

Wann Merkels letzter EU-Gipfel stattfindet, lässt sich noch nicht prognostizieren. Es ist durchaus denkbar, dass sie im kommenden Oktober noch als geschäftsführende Kanzlerin an Spitzentreffen teilnimmt, wenn bis dahin nach der Bundestagswahl nicht zügig eine neue Regierung gebildet sein sollte.

Man könnte annehmen, dass nach dem Ausscheiden Merkels Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Führungsrolle unter den Staats- und Regierungschefs in der EU übernimmt. Doch beim Gipfel war es erneut vor allem Rutte, der deutlich machte, dass Berlin und Paris innerhalb der Gemeinschaft keineswegs mehr in allen Belangen tonangebend sind. Deutschland und Frankreich hatten die übrigen Partner mit dem Vorschlag überrascht, künftig EU-Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin abzuhalten. "Ich werde an einem Treffen mit Wladimir Putin nicht teilnehmen", sagte Rutte kurzerhand.

Der niederländische Premier Rutte wird in der EU zunehmend zum Gegenspieler des ungarischen Regierungschefs Orbán.
Der niederländische Premier Rutte wird in der EU zunehmend zum Gegenspieler des ungarischen Regierungschefs Orbán.

© Aris Oikonomou/REUTERS

Am Ende der langen Diskussionen in der Nacht zum Freitag war es dann auch wieder Rutte, der zusammen mit etlichen osteuropäischen Amtskollegen dazu beitrug, den Vorschlag Merkels und Macrons weit gehend ins Leere laufen zu lassen. Anfangs hatte der Niederländer noch erklärt, er habe nichts dagegen, wenn sich Putin demnächst mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und dem Ratspräsidenten Charles Michel treffen würde.

Rutte dürfte klar gewesen sein, dass bereits ein solcher Schritt eine gewaltige Aufwertung für Putin bedeuten würde, nachdem die EU derartige Gipfeltreffen seit 2014 nicht mehr abgehalten hat. Die Niederlande machen Russland für den Abschuss des Fluges MH17 verantwortlich, bei dem vor sieben Jahren 196 niederländische Staatsbürger starben.

Niederlage für Merkel und Macron

Hinterher erklärte Merkel, dass die EU weiter an einem Dialogformat mit Russland arbeiten werde. Doch das Gipfelergebnis kommt faktisch einer Niederlage für die Kanzlerin und den französischen Staatspräsidenten gleich: Laut dem Abschlusskommuniqué werden die EU-Kommission und der Brüsseler Außenbeauftragte Josep Borrell beauftragt, zusätzliche Maßnahmen der Gemeinschaft gegen Moskau zu prüfen. Als Reaktion auf „bösartige, illegale und spaltende Aktivitäten durch Russland“ werden dabei auch weitere Wirtschaftssanktionen gegen Moskau erwogen.

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