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Wahlwerbung in Istanbul: Das liberale Bürgertum wünscht sich den progressiven europäischen Rechtsstaat.

© AFP/Bulent Kilic

Liberale in der Türkei: Erdogan gegen die Nein-Sager

Vor dem Referendum in der Türkei: Trotz Medienkontrolle und Kundgebungsverboten werben die Gegner der Verfassungsänderung weiter für ein „Nein“.

Der Konvoi von Präsident Recep Tayyip Erdogan fuhr morgens die freigeräumte Straße im Istanbuler Villenviertel Tarabya hoch zum Belgrader Wald und weit in den Westen der Millionenstadt. Da ließ Erdogan die Kolonne anhalten, entstieg seiner Limousine und besuchte das Volk. Am Ausgang der Endstation einer U-Bahn-Linie ging er zuerst zu einem Kampagnenstand seiner Parteileute, die für das Ja zur Verfassungsänderung warben. Dann schritt Erdogan mit einem Mal auf das Zelt der Gegner zu. Dort verteilten Helfer der sozialdemokratischen Opposition Flugblätter, die zum Nein beim Referendum am 16. April aufriefen.

Knapp 15 Minuten standen sie sich gegenüber, Auge in Auge: der Autokrat und die widerständigen Bürger. Über die Diskussion vor und im Zelt der Neinsager gab es Bilder ohne Ton. Sie zeigen einen immer ungehaltener werdenden Erdogan, der schließlich mit einer unwirschen Handbewegung das Gespräch beendet und sich von seinen Leibwächtern zurück zum Konvoi begleiten lässt.

Tiefe Kluft im Land

Berichte danach, von den Oppositionellen wie von Erdogan selbst, zeigten einmal mehr, wie tief die Kluft zwischen dem Präsidenten und den liberal gesinnten, säkularen Türken ist. „Warum sagen Sie Nein?“, will Erdogan von einer Aktivistin wissen. „Um der Trennung von Staat und Religion willen, für die Republik, für die Freiheit, für ein modernes Leben und für die Rechte der Frauen“, habe sie geantwortet, erzählt Sebahat Sarigül, ein Mitglied der sozialdemokratischen CHP, später. Beim Stichwort „modern“ hakt Erdogan gleich nach. „Und jetzt ist die Türkei nicht modern? Was fehlt Ihnen?“, höhnt der Staatschef, als er später in einer Rede vor Anhängern von seinem Besuch im Nein-Lager erzählt: „Unsere Straßen, unsere Brücken, der Hochgeschwindigkeitszug, die Schulen – die gibt es alle nicht?“

Das liberale Bürgertum wünscht sich den progressiven europäischen Rechtsstaat – und der Staatspräsident spricht von Infrastruktur. Doch der Zusammenprall am Istanbuler U-Bahnhof Haciosman war bisher zugleich einer der wenigen Momente, in denen Gesichter und Slogans der Nein-Kampagne überhaupt Eingang in die vom Staat gelenkten Medien gefunden haben.

Angesichts von Festnahmen und Kundgebungsverboten findet ein großer Teil der Kampagne gegen die Verfassungsänderung im Internet statt. Nachrichtenportale kämpfen gegen die Medien der Regierung, Internetsender in Istanbuler Hinterzimmern wie Periscope oder WebizTV nehmen den Kampf mit den offiziellen Nachrichtensendern auf. Fakten-Checker wie teyit.org versuchen, die Behauptungen von Politikern der regierenden AKP bei Kampagnenauftritten zu korrigieren.

Wie viele Türken der Wahlkampf mit dem Hashtag „Hayir“ („Nein“) am Ende erreicht, ist allerdings fraglich. Eine der Diskussionsrunden zum Referendum dieser Tage auf Periscope hatte zur Mittagsstunde knapp um die hundert Zuschauer.

Aber vielleicht reicht vielen schon die Selbstdarstellung Erdogans, um sich eine Meinung zu bilden.

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