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Libyen: Die Reise des Herrn Shaladi

Er ist nie geflohen aus Libyen. Er kam nach Berlin, um zu studieren. Später geriet er ins Visier des Gaddafi-Regimes, wurde gefoltert und konnte nicht mehr zurück. Jetzt sucht Ahmed Shaladi von hier aus einen neuen Weg für sein Land.

Ahmed Shaladi, vierter Sohn eines Scheichs aus dem nordlibyschen Dorf Abu Issa und ausweislich seiner Personaldokumente geboren im Jahr 1950, wahrscheinlicher aber zwei Jahre danach, von seinen libyschen Landsleuten auf deutschem Territorium gejagt, beschattet und gefoltert, sitzt Freitagnacht im Intercity Express zwischen Berlin und Essen und sagt: „Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, so lange hier zu bleiben.“ Hier, das ist also die Bundesrepublik Deutschland, und seit 40 Jahren ist Shaladi nun schon da.

Der Zug jagt durch nachtschwarzes Niemandsland, er ist voll mit Menschen, die ihre Ankunftszeiten in Mobiltelefone sprechen, manche geben Rechenschaft ab über das von ihnen Geleistete an diesem Tag, in dieser Woche, sie sagen „Ergebnis“, „perspektivisch“ und „Deal“, sie sagen „ich dich auch“, manche versuchen zu schlafen. Ein Freitagnacht-Heimkehrerzug, gefüllt mit geschäftsmäßiger Rederei, mit Müdigkeit und Wochenendvorfreude, und mit Herrn Shaladi, der gerade mit einem Umsturz beschäftigt ist.

Herr Shaladi ist die Woche über in Berlin gewesen. Zusammen mit ein paar befreundeten Männern hat er dort Anti-Gaddafi-Demonstrationen vor der libyschen Botschaft und dem Außenministerium organisiert. Er hat mit diesen Freunden andere Männer in Libyen ausfindig gemacht, von denen er glaubt, dass diese bald Gesprächspartner für ausländische Regierungen sein können, also qualifiziert und rechtschaffen genug sind, um das Machtvakuum dort zu füllen. Er hat Kontakt mit ihnen aufgenommen und Pläne gemacht.

Er hat auf der Besuchertribüne des Bundestages gesessen und zugehört, wie der Außenamts-Staatsminister Werner Hoyer sagte, dass die Lage in Libyen schlimmer sei als die in Ägypten, dass „die Voraussetzungen für den Sieg der Freiheit ungleich schwerer“ seien. Und er versucht, einen Container mit Desinfektions- und Narkosemitteln und Verbandszeug voll zu bekommen und nach Libyen zu schicken.

Der kleine Herr Shaladi ist womöglich der einzige Mensch an diesem Abend in diesem Zug, der etwas wirklich Unerhörtes zu erzählen hat.

Aber man sieht ihm das natürlich nicht an. Shaladi ist nur ein einziges Mal von Interesse gewesen in diesem ICE, gleich zu Anfang, der Zug fuhr langsam aus dem Berliner Hauptbahnhof hinaus. Shaladi lief durch den Gang zwischen den Sitzreihen auf der Suche nach seinem reservierten Platz. Er findet ihn, 4 Euro 50 zahlt man dafür, ein junger Mann im Parka mit aufgenähter Deutschlandflagge und mit Metall im Gesicht sitzt darauf, und der junge Mann fängt an, Shaladi zu duzen. „Du sitzt hier, ja, du sitzt hier, ja?“ Es ist dieser tausendfach am Tag in deutschen Zügen vorkommende Revierverteidigerton, und Shaladi geht tatsächlich weiter, es ist nichts Besonderes, doch dieses Mal steckt ein Sinnbild in dieser Szene. Denn die Deutschen lernen in diesen Wochen, dass die von ihnen gewählten Regierungen ein fragwürdiges Verhältnis zu einigen Staaten in Nordafrika eingegangen waren. Sie ahnen, dass die Dinge, die Menschen wie Shaladi angezettelt haben und weitertreiben, nicht ohne Konsequenzen für sie bleiben werden. Und auch wenn ihnen zum Beispiel Peter Scholl-Latour das alles anders erklärt als, beispielsweise, Jürgen Trittin, scheint schon jetzt klar zu sein, dass sie etwas hergeben werden müssen. Ein bisschen von ihrem Weltbild, mehr Geld als bisher für Benzin, mehr Platz als bisher für Flüchtlinge. Sie werden das womöglich nicht wortlos tun. Über dem von Shaladi reservierten Sitzplatz leuchtet ein LED-Schriftzug, „ggf. freigeben“.

Shaladi ist kein Flüchtling. Jedenfalls ist er nie geflohen. Er ist, dieses Wort trifft es vielleicht besser, ein Exilant. Denn er ging freiwillig nach Deutschland, irgendwann aber konnte er nicht mehr nach Libyen zurück. Shaladi gehörte zu den 100 Besten seines Abiturjahrgangs, sagt er, er sollte in Deutschland studieren. 1971 kam er in Frankfurt am Main an, machte dort einen Deutschkurs, in Hamburg erwarb er die deutsche Hochschulreife. An der Technischen Universität von West-Berlin studierte er Physik, Aufbaustudiengang Informatik, arbeitete danach als angestellter Computerfachmann, heute ist er selbstständig. 1979 ließ man ihn zum letzten Mal nach Libyen einreisen.

Der Zug fährt durch die Nacht. Draußen leuchtet Wolfsburg auf, die Autostadt. Hannover, die Wulff-, Schröder-, Lena-Stadt. Sinnbilder, genauso wie die Sitzplatz-Szene vorhin, für Sachen und Menschen, die in Deutschland von Bedeutung sind. Sie stehen für die Sicht eines Landes auf sich selbst. Ahmed Shaladi teilt viel von dieser Perspektive, aber auf manches blickt er immer noch völlig anders als andere. Auf Bonn zum Beispiel. Die Stadt, deren Namen dieser ICE hier trägt. Die Stadt, in der Shaladi 1982 gefoltert wurde.

Im November jenes Jahres bekam er einen Anruf eines befreundeten Studenten aus Hamburg, ein Libyer wie Shaladi, er müsse seinen Pass verlängern, in der Botschaft, in Bonn, und er habe Angst. Ob Shaladi ihn nicht begleiten könne. Shaladi konnte, die beiden fuhren also hin, und als sie im Gästehaus der Botschaft ankamen, in dem gerade ein Treffen libyscher Studenten stattfand, „da“, sagt Shaladi, „da ging es los“. Drei Männer seien auf die beiden zugekommen, zwei davon mit Schlagstöcken in der Hand, einer mit lauter Stimme, „hier ist kein Platz für Verräter, sagte der, Staatsfeinde sind unter uns, ich meine der und der, und er zeigte auf uns“. Shaladi muss jetzt ein bisschen lächeln, „ja, das war das Vokabular, nicht originell, aber so redeten die, solches Zeug redeten diese Revolutionsleute immer“.

Der Verrat bestand darin, Flugblätter und Zeitschriften gedruckt und verteilt zu haben, in denen es um eine Mordserie an Libyern im Ausland ging. Neun Libyer waren im Jahr 1980 in westeuropäischen Hauptstädten getötet worden, nachdem Muammar al Gaddafi in jenem Jahr öffentlich die „Liquidierung der Feinde der Revolution im Ausland“ forderte. Im Oktober 1982 hatte er dies in einer Rede, die von Radio Tripolis übertragen wurde, noch einmal bekräftigt: „Von nun an kann dies nicht allein den Revolutionskomitees überlassen bleiben.“ Die Zahl der Toten wuchs damals auf 15.

Die beiden jungen Männer wurden getrennt voneinander verhört, geschlagen, bedroht, sie sollten ein Geständnis ablegen, das mit einer Videokamera aufgezeichnet und später im libyschen Fernsehen ausgestrahlt werden sollte. Sie selbst sollten dann ebenfalls wieder in Libyen sein, transportiert in Holzkisten, als Diplomatengepäck. Unter den Verhörern soll Uneinigkeit darüber geherrscht haben, ob dies in betäubtem Zustand oder tot vonstatten gehen sollte.

Es war dann aber so, dass Freunde Shaladis und womöglich auch ein Botschaftsangehöriger die Polizei alarmierten. Nach 24 Stunden kamen die beiden Studenten wieder frei. Mit Prellungen und Wunden am Kopf, geschwollenen Händen und Füßen und Knochenbrüchen.

Zeuge und womöglich auch Befehlshaber dieses Verhörs – er war der Mann mit der lauten Stimme – war der Arzt Mustafa Saidi. Er war damals Hospitant am Bonner Universitätsklinikum, soll in den 70er Jahren nach Angaben libyscher Oppositioneller an der Ermordung von Studenten in Benghasi beteiligt gewesen sein, und, nachdem er 1983 in Deutschland zur unerwünschten Person erklärt worden war, als Botschaftsattaché in Wien Söldner angeworben haben. Erkenntnisse des Bundeskriminalamts legen das nahe. 1987 wurde Saidi libyscher Gesundheitsminister.

Er kam 1983 wegen des Botschaftsverhörs vor ein Bonner Gericht. Noch vor dem Urteil aber wurden acht Deutsche in Libyen festgesetzt, der Freipressungsversuch hatte Erfolg.

Shaladi sagt, dass er und sein Hamburger Kommilitone ebenfalls Bestandteile dieser Tauschaktion sein sollten. Er könne das nicht beweisen, sagt er. Aber es habe eine Indiskretion im Polizeiapparat gegeben damals, jemanden, der ihnen gesagt habe: „Passt auf. Setzt euch ab.“

Die beiden gingen für eine Zeit nach Marokko. Einer von Shaladis Brüdern kam in Libyen ins Gefängnis. Der Vater wurde erpresst. Wir lassen ihren Jungen frei, wenn der andere aus Deutschland zurückkommt, sollen die Revolutionäre zu ihm gesagt haben. Der Vater soll gesagt haben, wo ist die Garantie dafür, dass den beiden nichts passiert? Es gab keine Garantie. Ahmed Shaladi blieb also in Deutschland, sein wegen Hochverrats angeklagter Bruder blieb im Gefängnis. Das Letzte, was die Familie von ihm weiß, ist, dass er 1985 aus diesem Gefängnis weggeschafft wurde. Seitdem fehlt jedes Lebenszeichen von ihm.

Was mit Auslands-Libyern passierte, die bereit waren, zurückzukehren, erfuhr die Familie Shaladi etwa zu dieser Zeit durch einen Freund dieses Bruders. Dieser Freund hatte ein halbes Jahr bei Ahmed Shaladi in Deutschland gelebt, er kehrte auf Wunsch Libyens heim. Zwei Jahre darauf fand man ihn dort aufgehängt auf einem Unigelände.

Was mit Auslands-Libyern passierte, die in der Fremde blieben, erfuhr die Öffentlichkeit im Jahr 1985. Der Student Gebril Denali, der zwei Wochen nach Shaladi ebenfalls in einem libyschen Botschaftsgebäude verprügelt worden war, wurde damals in der Bonner Innenstadt von einem Landsmann erschossen.

Shaladi muss seitdem viel darüber nachgedacht haben, wie er sich zu all dem verhalten sollte. Zur Erpressung des Vaters, zum Verschwinden des Bruders, zur Alternative Tod in Libyen oder Tod in Deutschland. Er hat dann irgendwann zur wahrscheinlich einzig möglichen Haltung gefunden. Auf die Frage, ob er Schuldgefühle habe, sagt er sehr schnell: „Es tut mir immer noch weh, dass ich da nichts machen konnte. Aber schuld an etwas ist man nur, wenn man aktiv mitgewirkt hat.“ Auf viele andere Fragen antwortet er nicht. Oder er bittet darum, die Antworten zu verschweigen. Und mehr ist zu dieser Bitte tatsächlich nicht zu sagen.

Er hat nach diesen Jahren ein ruhiges Familienleben geführt, fünf Söhne kamen in Berlin zur Welt, es gab einen Umzug nach Hamburg und dann einen nach Essen. Er hat, so gut es ging – und es ging sehr schlecht –, Kontakt nach Libyen zu halten versucht, und er hat versucht, Aufmerksamkeit für dieses Land zu schaffen, denn geändert hatte sich wenig. Auch nach dem 11. September 2001 nicht, als die Regierungen der westlichen Welt vollends mit Gaddafi zu kooperieren begannen. Es ging um die Terrorismusabwehr, Flüchtlingsvermeidung und stabile Rohstoffpreise. Shaladi sagt den einfachen Satz: „Mit Despoten macht man nicht gemeinsame Sache, die sind ja die Ursache für das, was man eigentlich verhindern möchte.“ Ja, er sei bitter deswegen.

Er sagt noch einen einfachen Satz auf die Frage, wie der Westen sich jetzt verhalten sollte. Einmarschieren? Es geht viel leichter, sagt er, „Gaddafi, sein Staatsfernsehen, läuft über Satellit, aber er besitzt keinen.“ Man müsse nur diesen gemieteten Satellitenkanal abschalten.

Es ist halb zwölf, der Zug ist in Essen angekommen. Ahmed Shaladi steigt aus, „oh, Plusgrade“, sagt er. In Berlin war Frost, dort hatte er auf dem Bahnsteig noch gefroren. Auf dem Weg nach Westen ist es deutlich wärmer geworden.

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