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Politik: Lieber mehr Geld als Zeit für die Liebe

Frankreichs konservative Regierung lockert die 35-Stunden-Woche

Von Sabine Heimgärtner, Paris

Nicht einmal wirklich eingeführt, wird sie schon wieder abgeschafft: Die 35-Stunden-Woche in Frankreich, jenes Reformprojekt der linken Regierung unter dem Sozialisten Lionel Jospin, das über die französischen Grenzen hinaus Aufsehen erregte. Die neue konservative Regierung schickt sich jetzt an, das Arbeitszeitmodell, mit dessen Hilfe in den vergangenen zwei Jahren rund 450 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, deutlich zu lockern. Im Klartext: Es soll praktisch abgeschafft werden.

Den Grund für die Initiative lieferten die Franzosen selbst. Während man in ganz Europa in der französischen 35-Stunden-Woche ein Rezept gegen die hohe Arbeitslosigkeit sah und sie als vorbildhaft, mutig und innovativ lobte, war die Reform in Frankreich selbst von Anfang an höchst umstritten. Jeder zweite Franzose möchte wieder mehr arbeiten – des Geldes wegen. Staatspräsident Jacques Chirac versprach deshalb im Wahlkampf, an dem erst seit 2000 gültigen Gesetz zur Arbeitszeitverkürzung Änderungen vorzunehmen. Sein Regierungschef Jean-Pierre Raffarin legte umgehend den Rückwärtsgang ein: „Arbeit muss endlich wieder ein wertvolles Gut werden."

Die gesetzliche Arbeitszeit von derzeit 35 Stunden darf künftig also überschritten werden, auf 39 und mehr Stunden. Das aber ist leichter gesagt als getan, denn die Krux der 35-Stunden-Woche war von Anfang an, dass sie nicht in allen Branchen gleichzeitig eingeführt wurde. Mittelständische Betriebe bekamen eine Schonfrist. Für die eine Hälfte der französischen Arbeitnehmer werden deshalb künftig andere Regeln gelten als für die andere. Schon jetzt schimpfen Gewerkschafter über ein „heilloses Durcheinander" und ein „Land mit zwei Geschwindigkeiten". 75 Prozent der Angestellten in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten – rund 8,8 Millionen Erwerbstätige – und 90 Prozent der Beamten arbeiten bereits nicht mehr als 35 Stunden in der Woche, aber nur neun Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 20 Angestellten.

Für die Berufstätigen, die bereits jetzt die verkürzte Arbeitszeit genießen, wird sich wenig ändern. Wer mehr Geld verdienen möchte, darf jedoch künftig fast unbegrenzt gut bezahlte Überstunden machen. „Das richtet die ganze Philosophie der Reform zugrunde, denn Ziel war ja, dass weniger gearbeitet wird, um Arbeitsplätze für andere frei zu machen", klagt Catherine Doyeldieu, Mitarbeiterin einer großen Versicherung, die mit dem Prinzip weniger Geld und mehr Freizeit bislang gut leben konnte.

Ausgetrickst fühlen sich nun die vielen Angestellten kleiner Betriebe, immerhin rund 7,5 Millionen, die voraussichtlich nie in den Genuss der 35-Stunden-Woche kommen werden. Sie müssen sogar vier Stunden mehr arbeiten als ihre Kollegen in großen Betrieben und werden dafür nicht einmal besser bezahlt. „Zwei-Klassengesellschaft", wettert der Firmenberater Jean-Pierre Gauthier. „Die Arbeitszeitverkürzung als Waffe gegen die Arbeitslosigkeit ist damit tot", glaubt er. Und ganz nebenbei sind damit auch alle anderen Trümpfe der 35-Stunden-Woche verspielt: Weniger Frauenarbeitslosigkeit, mehr Teilzeitarbeit, höhere Umsätze im Tourismus - und ein Babyboom.

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