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Politik: „Links von uns hat sich nichts verfestigt“

Der frühere SPD-Chef Vogel über den Terror der RAF, Lafontaines Kleingeisterei – und heitere Alte

Herr Vogel, seit wann sind Sie alt?

Seit ich merke, dass ich in einem Jahr älter werde als früher in fünf Jahren. In unserer Sprache gibt es ja die Merkwürdigkeit, dass wir zunächst älter werden und dann erst alt. Die Beschwerden nehmen zu, die Beweglichkeit nimmt ab, das Kurzzeitgedächtnis macht mir manchmal Kummer; ich muss nach Namen fragen.

Sie machen dennoch einen ziemlich heiteren Eindruck.

Ach, im Allgemeinen ist das Alter nicht traurig. Es gibt Momente, da sage ich: Verflucht noch mal, jetzt musst du dich so plagen bei etwas, was du früher aus dem Hemdsärmel geschüttelt hättest. Aber nein, die Heiterkeit und, wenn ich mein Leben übersehe, auch ein Gefühl der Dankbarkeit überwiegt.

Ist es möglich, gut zu leben, bis ins hohe Alter, wenn man den Tod nicht akzeptiert?

Ein Leben, in dem der Tod keine Rolle spielen darf, ist unvollständig. Der Tod ist nun einmal ein elementarer Bestandteil des Lebens. Und wenn man einen elementaren Bestandteil ausblendet, dann fehlt etwas an einem gelungenen Leben.

Was fehlt?

Ich fürchte, das Ausblenden führt dazu, dass man aus dem Auge verliert, was wichtig ist. Es kann dazu führen, dass man sich zu wenig Rechenschaft über sein Tun und Lassen ablegt. Oder es kommt zu einer gewissen Hektik in der Lebensführung. Die Folgen können unterschiedlich sein, aber ich glaube nicht, dass Gutes daraus erwächst, wenn man den Tod ausblendet.

Leben wir nicht in einer Gesellschaft, die Alter und Tod systematisch verdrängt?

Ist das wirklich so? Ich habe im Moment einen ganz anderen Eindruck. Die Zeitungen haben das Thema Alter und Tod entdeckt. Auch die öffentliche Resonanz auf den Umzug von meiner Frau und mir in ein Altenwohnheim spricht für ein gestiegenes Interesse der Menschen an diesen elementaren Themen. Natürlich gibt es noch viele Menschen, die mit Alter und Tod nichts zu schaffen haben wollen. Aber es haben auch acht bis neun Millionen Deutsche eine Patientenverfügung unterschrieben, sich also intensiv mit dem eigenen Ableben auseinandergesetzt. Und das, bevor die öffentliche Debatte darum voll entbrannt war.

Können Sie als einer, der den Weltkrieg miterlebt hat, offener über den Tod reden als die Nachgeborenen?

Vielleicht ist man gefestigter, wenn einem in der Endphase seines Lebens der Gedanke des Todes nicht zum ersten Mal begegnet. Ich bin mit 17 Jahren eingezogen worden. Ich wurde verwundet und habe Kameraden neben mir tot am Boden liegen sehen. Das war eine frühe und sehr intensive Begegnung mit dem Tod.

Hat die Neigung, den Tod beiseitezuschieben, mit dem Verlust von Religiosität zu tun?

Natürlich hat die Religion nicht mehr die Selbstverständlichkeit, die sie im 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts hatte. Aber ich habe den Eindruck, dass in den letzten Jahren religiöse Überlegungen die Menschen wieder stärker prägen. Da ist ein Prozess in Gang gekommen. Unsere Zeit ist ja viel schnelllebiger geworden. Und da wächst dann doch das Bedürfnis nach Orientierung und einem archimedischen Punkt. Nur unter dem Motto zu leben, anything goes, Hauptsache Spaß – ich glaube, das genügt immer weniger Menschen. Da ist der Gipfel überschritten.

Für Sie war der archimedische Punkt immer Ihr „Herrgott“. Inwieweit hat Sie das in Ihrem Politikerleben getragen und geleitet?

Das hatte nicht immer dieselbe Intensität. Es gab auch Phasen des Zweifels nach der Rückkehr aus dem Krieg. Aber es hat kontinuierlich zugenommen. Als ich dann als Justizminister im Herbst 1977…

… nach der Entführung von Hans Martin Schleyer und der Landshut …

… schwierige Entscheidungen treffen und mittragen musste, hat mir mein archimedischer Punkt Halt gegeben. Wenn man weiß, du bist nicht allmächtig und allwissend, du plagst dich und du mühst dich, damit du in der Abwägung die richtige Entscheidung triffst, aber letzten Endes liegt alles in Gottes Hand, dann gibt einem das Sicherheit.

Den Forderungen der Schleyer-Entführer nicht nachzugeben, ihn also notfalls zu opfern – war das die schwierigste Entscheidung Ihres Politikerlebens?

Die Entscheidung hat am Ende Helmut Schmidt getroffen. Aber die Argumente, die ich als Jurist beigetragen habe, haben natürlich für die Meinungsbildung des Kanzlers und des Krisenstabes eine Rolle gespielt. Die Frage, ob es richtig war, der Forderung der RAF nicht nachzugeben, beschäftigt mich noch heute.

Sie zweifeln?

Nein. Aber es beschäftigt mich die Frage, inwieweit wir für den Tod von Schleyer Verantwortung tragen. Trotzdem komme ich immer wieder eben doch zu dem Schluss, dass die Entscheidung richtig war. Hätten wir uns entschieden, Schleyers Leben um jeden Preis zu retten, hätten wir das Leben derer geopfert, die von freigelassenen Terroristen bei neuen Anschlägen getötet worden wären. Außerdem hätten wir mit der Freilassung die Schutzfähigkeit des Staates in Frage gestellt. Ich habe damals immer an die Polizisten gedacht, die unter Lebensgefahr Terroristen verhaften mussten und dann hätten zusehen müssen, wie der Staat diese Terroristen zur Gefängnistür hinausspazieren lässt.

30 Jahre nach dem Deutschen Herbst debattiert das Land heftig die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und die mögliche Begnadigung von Christian Klar. Woher rührt diese Emotionalität?

Die Aufregung über die Entlassung von Brigitte Mohnhaupt ist mir nicht ganz erklärlich. Es wird gerade so getan, als ob das der erste Fall dieser Art sei. Es gibt aber bereits eine ganze Reihe von Entlassungen, auch Begnadigungen. Wenn nach einer Verurteilung wegen dreifachen Mordes zu lebenslänglich nach einer bestimmten Zahl von Jahren die Freilassung geprüft und bei erfüllten Voraussetzungen auch gewährt wird, ist das ein normaler Vorgang. Ich verstehe jedoch, dass das für die Hinterbliebenen der Opfer außerordentlich schmerzlich und sensibel ist.

Offenbar ist es nicht für alle ein normaler Vorgang. Bayerns Ministerpräsident Stoiber zum Beispiel …

… müsste als Jurist eigentlich genau wissen, dass das Gericht im Fall Mohnhaupt streng nach Recht und Gesetz verfahren ist. Aber stattdessen sagt er: Unerhört! Es erfüllt mich mit Sorge, dass einer der Repräsentanten dieser Republik ein Gericht dafür kritisiert, dass es ein geltendes Gesetz korrekt angewendet hat.

Damals stand der Staat in viel größerer Versuchung, seine Grundsätze in Frage zu stellen und damit gewissermaßen in die Falle der Terroristen zu tappen. Würden Sie sagen, dass er diese Prüfung in vollem Umfang gemeistert hat?

Darauf bestehe ich. Die besondere Leistung der damals verantwortlichen besteht darin, dass der Rechtsstaat eben nicht in Frage gestellt worden ist. Alles, insbesondere das Kontaktsperregesetz, wurde vom Bundesverfassungsgericht geprüft und für verfassungsgemäß erklärt!

Warum ist das Thema für die Deutschen auch 30 Jahre danach nicht erledigt?

Es war eine Herausforderung, die es so vorher und nachher in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gegeben hat. Das geschah zum ersten Mal und das haftet im Bewusstsein.

Bei der in Frage stehenden Begnadigung von Klar geht es anders als bei Mohnhaupt nicht um den Vollzug von Gesetzen, sondern um eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten. Glauben Sie, dass die Deutschen Verständnis für einen Gnadenakt hätten?

Ich habe dem Bundespräsidenten keine öffentlichen Ratschläge zu erteilen. Ein wichtiges Entscheidungskriterium ist, ob der Betreffende seine Tat bedauert und dies glaubwürdig darlegt. Man wird auch bedenken müssen, dass im Falle Klar die Gnadenentscheidung nur einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr betrifft. Dann wird auch bei ihm ein Gericht darüber zu befinden haben, ob er noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Andernfalls muss man ihn freilassen.

Spricht Klars scharfe Kapitalismuskritik gegen eine Begnadigung?

Wenn ein Täter, der rechtskräftig verurteilt ist, heute noch altmarxistischen Auffassungen zuneigt, wäre das für mich eine Frage seiner freien Meinungsäußerung. Wenn der Text dahin ausgelegt werden muss, dass er nach wie vor Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieser gesellschaftlichen Ziele für legitim hält, dann kann es keine Begnadigung geben.

Jeder Generation von Politikern wird eine eigene Prüfung auferlegt. Die Ihre war der Deutsche Herbst. Worin besteht die Prüfung der heutigen Politikergeneration?

Es ist die Auseinandersetzung mit dem, was Erhard Eppler die privatisierte Gewalt nennt, also mit der ganz neuen Form des Terrors, die sich zu Unrecht auf religiöse Wahrheiten beruft und auch mit Selbstmordattentaten operiert. Ich hoffe, dass diese Herausforderung in einer weltweiten Kooperation bestanden werden kann.

Wie?

Ich glaube, dass die Voraussetzung eine gerechtere Weltordnung ist. Dass Macht und Wohlstand unter den 6,2 Milliarden Menschen so empörend ungerecht verteilt sind, ist eine der Ursachen dafür, dass Terroranschläge gegen den Westen bei nicht wenigen Menschen in den ärmeren Weltregionen auf Sympathie stoßen oder sogar Unterstützung finden.

Was heißt das für eine sozialdemokratische Partei im Wohlstandsland Deutschland?

Die Sozialdemokratie hat in ihrer 144-jährigen Geschichte ganz erheblich dazu beigetragen, Macht und Wohlstand in Deutschland gerechter zu verteilen. Ich würde dafür plädieren, dass wir als Sozialdemokraten im neuen Grundsatzprogramm klar sagen, dass das jetzt auch eine globale Aufgabe ist. Solange 1,2 Milliarden Menschen von einem Euro und 2,8 Milliarden von zwei Euro am Tag leben müssen, solange brauchen wir uns über große Spannungen nicht wundern.

Der SPD von heute fällt es schwer, den Sozialstaat zu reformieren.

Anders als die Linkspartei nimmt die SPD die Realität zur Kenntnis. Natürlich tut sich da eine Partei leichter, die jede Regierungsverantwortung im Grunde ablehnt. Sie kann alles Mögliche fordern. Dazu ist eine SPD aber nicht da. Für die SPD gilt, was Ferdinand Lasalle gesagt hat: Jede politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist. Und jede Kleingeisterei beginnt mit dem Bemänteln und Beschönigen dessen, was ist. Das sollte der Saarländer, dessen Namen mir nicht mehr einfallen will, gelegentlich nachlesen.

Trotzdem kann Oskar Lafontaines Linkspartei die Mehrheitsfähigkeit der SPD auf Dauer gefährden. Wie soll die SPD mit der Konkurrenz umgehen?

Wir müssen eine Politik betreiben, die sich an unseren Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit orientiert, aber auf dem Boden der Realität bleibt. Das ist nicht immer populär. Aber die Entwicklung zeigt doch, dass diese Politik erfolgreich ist. Eine der Ursachen dafür, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht, ist doch auch die Standhaftigkeit von Gerhard Schröder bei der Umsetzung seiner Reformen. Und was die Linkspartei angeht: Ob sie durch die Fusion von PDS und WASG wirklich im Westen Wurzeln schlagen kann, ist doch eine völlig offene Frage. Das wird auch von den weiteren Erfolgen der großen Koalition abhängen, also von einer Politik, die von der SPD mitverantwortet wird. Links von uns hat sich auf jeden Fall noch nichts verfestigt.

Deutschland aus der Vogelperspektive, lautet der Titel des Buches, das Sie mit Ihrem Bruder Bernhard verfasst haben. Wie sieht das Land aus dieser Perspektive aus?

Wir wollen keine distanzierte Historie der Republik vorlegen, sondern den Menschen nahebringen, dass die bisherige Geschichte der Bundesrepublik ein großer Erfolg war. Allein die Tatsache, dass wir seit 60 Jahren in Frieden leben! Die Botschaft soll auch sein, dass man selbst bei ganz erheblichen politischen Meinungsverschiedenheiten einen anständigen Umgang miteinander pflegen kann. Und dass es sich lohnt, wenn sich Menschen für das Gemeinwesen engagieren, anstatt nur an den eigenen Vorteil zu denken.

Das Gespräch führten Tissy Bruns und Stephan Haselberger. Das Foto machte Uwe Steinert.

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