zum Hauptinhalt

London: Die Skeptiker hatten recht

„Am Ende müssen wir noch Briten werden“, murmle ich über den Küchentisch zu meiner Frau, als die Krise wieder einmal besonders heftig kocht, die Briten das baldige Ende des Euros prophezeien und die deutsche Bundeskanzlerin den Frieden in Europa bedroht sieht. Ungläubig sieht meine Co-Staatsbürgerin zurück.

„Am Ende müssen wir noch Briten werden“, murmle ich über den Küchentisch zu meiner Frau, als die Krise wieder einmal besonders heftig kocht, die Briten das baldige Ende des Euros prophezeien und die deutsche Bundeskanzlerin den Frieden in Europa bedroht sieht. Ungläubig sieht meine Co-Staatsbürgerin zurück. „Krieg wird ja nicht gleich ausbrechen.“ Aber wäre bei dem Austritt Großbritanniens aus der EU, der immer wahrscheinlicher wird, das automatische Wohn- und Arbeitsrecht bedroht?

Natürlich nicht. Aber im Zwischenraum der Vagheit, in dem sich bisher europäische Gesinnung und nationale Emotionen in unbestimmter Schwebe hielten, wird es eng. Für alle. Auch wir, Fans des Binnenmarkts, seit man in London „Epoisses de Bourgogne“ kaufen kann, ohne deshalb Bewunderer der Brüsseler Verordnungsbürokratie geworden zu sein, müssen nun Farbe bekennen. Unsere Führungsspitzen stellen uns vor eine klare Alternative: Europa pur – oder alles fällt auseinander.

„Die richtige Lehre aus der Krise ist mehr Europa“, heißt es – wobei offen bleibt, ob das nun für die Friedenssicherung nötig ist, oder um gegen die Chinesen zu bestehen, oder einfach damit der Euro und das Fahrrad Europa nicht umkippen. Ahnte jener große Europäer, der als Erster Europa mit dem Fahrrad verglich, das umfällt, wenn man nicht weiter- strampelt, wie viel Gegenwind es einmal geben würde?

Aus britischer Sicht sieht man diese Monty-Python-Methode des politischen Fortschritts skeptisch und will lieber einfach absteigen. 1990, als Frau Thatcher mit ihren Kollegen Kohl und Mitterrand über Delors 1 und 2 stritt, wussten die Briten schon, dass sich in einem so heterogenen Wirtschaftsraum das Korsett einer „one size fits all“-Zins- und Geldpolitik ohne die nötigen Transferarrangements rächen würde. Eine gemeinsame Währung, warnten sie, sei, wie wenn man sein Scheckbuch mit den Nachbarn teilt. Südengländer mit Nordengländern, Norditaliener mit dem Mezzogiorno. Nun eben auch Deutsche mit Griechen.

Schwächere Wirtschaften, warnte Thatcher, wüssten gut, dass sie in einer Einheitswährung mit dem starken Deutschland vernichtet würden, bauten aber darauf, „genügend Subventionen zu erhalten, damit sich ihre Einwilligung lohnt“. Griechenland identifizierte sie als den „klassischen Fall“. „Ich war schon an den griechischen Chor der Zustimmung gewöhnt, wenn immer Deutschland mit seinen ehrgeizigen Vorschlägen kam“, schrieb sie. Das war 1993.

Vielleicht hätte man den britischen Vorschlag eines „harten ECU“ ernster nehmen sollen, der als europäische Gemeinschaftswährung neben den Nationalwährungen existiert und Europa ein pragmatisch-langsames Hineinwachsen in die wirtschaftliche Einheit erlaubt hätte. Die Euro-Skeptiker hatten also recht, kein Zweifel, und das prägt die Perspektive von der Insel. In Deutschland scheint man sich mit Fehleranalysen eher noch schwerzutun. Man spricht von einer „Staatsschuldenkrise“, an der die Amerikaner schuld seien. Aber eine Staatsschuldenkrise haben die Briten auch, nur können sie ihre Staatsanleihen ohne Probleme verkaufen. Fragen wir mal die Iren, ob ihre Staatsschulden aus Amerika kommen, oder daher, dass die EZB ihnen mit Realzinsen von minus ein Prozent in den Jahren des Tigerwachstums eine Immobilienhausse praktisch verordnete.

Briten wussten natürlich, dass es in Wahrheit um die „deutsche Frage“ ging. Deutschland flüchtete aus der eigenen Identität nach Europa, und die Franzosen waren, aus Angst vor Deutschland, ihre Fluchthelfer. Geschichte, nicht Wirtschaft. Schicksal, keine trockenen Zahlen.

Womit wir bei dem Paradox sind, dass wir uns ausgerechnet in der Krise wieder als nationale Schicksalsgemeinschaften begreifen lernen. Griechen und Spanier werden durch Sparmaßnahmen zusammengeschweißt, die ihre Länder um Jahre zurückwerfen werden. Deutsche sehen die Zukunftskosten, die Stück für Stück enthüllt werden, und beginnen nach ihrem nationalen Interesse zu fragen. Die Früchte des Euro wurden Europa versprochen, die Kosten werden von Nationen getragen.

Natürlich ist undenkbar, dass Deutschland ein europaskeptisches Land wird, noch weniger vorstellbar ist, dass Deutschlands Eliten das zulassen würden. Aber vielleicht wird in Deutschland zum ersten Mal so über Europa gesprochen, dass auch Zweifler ernst genommen werden. Und wenigstens wird die Frage gestellt: Was ist Europa wert, was darf der Euro kosten, gibt es Alternativen? Die Briten diskutieren darüber schon seit 40 Jahren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false