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Eine türkische Maschine vom Typ F-16. Die Türkei hat kurdische Stellungen angegriffen.

© REUTERS

Luftangriffe der Türkei auf die Kurden: Das Kriegskalkül von Erdogan

Die Kurden haben sich im Kampf gegen den IS geopfert. Jetzt greift die Türkei die Kurden an. Präsident Erdogan provoziert eine Lage, die der Regierung nach der Wahlniederlage nützt. Was kann und muss der Westen tun? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ist die deutsche Außenpolitik zynisch? Vor einem Jahr galten die Kurdenmilizen als Helden, als Lebensretter. Im August 2014 waren die Truppen der Terrormiliz „Islamischer Staats“ (IS) im Nordirak auf dem Vormarsch, es drohte ein Massenmord an den Jesiden. Deutschland tat, was die offizielle Politik zuvor abgelehnt hatte: Es lieferte Waffen an eine Kriegspartei.

Nur den Kurden traute man es zu, den IS in Schach zu halten – jedenfalls solange der Westen nicht selbst kämpfen wollte. Die Kurden erfüllten die ihnen zugedachte Aufgabe und opferten viele Menschenleben, nicht nur im Irak, auch in Syrien. Heute ist diese Waffenbrüderschaft der Bundesregierung offenbar unangenehm.

Wo bleiben die klaren Worte an die Türkei? Die bekämpft nach den Terroranschlägen des IS auf türkische Ziele nicht nur den gemeinsamen Hauptfeind, den IS, sondern missbraucht die Luftangriffe, um zugleich die Kurden anzugreifen. Sie zerstört die letzten Überbleibsel der türkisch-kurdischen Verständigungsversuche der vergangenen Jahre. Sie macht wenig Unterschied zwischen extremistischen und moderaten Kurden.

Dagegen muss die deutsche Außenpolitik ihre Stimme erheben. Sie will ja nicht zynisch sein. Ihr fehlt die Kaltschnäuzigkeit der seit Jahrzehnten etablierten Ordnungsmächte. Sie hat aber auch noch nicht so viel praktische Erfahrung, wie sie ihr gewachsenes Gewicht einsetzen soll. Sie übt noch, wann und wie sie Druck ausübt, ob öffentlich oder hinter verschlossenen Türen. Und sie will sich nicht überheben, zumal die USA wenig Neigung zeigen, die Türkei in die Schranken zu weisen. Die Amerikaner sind froh, dass Ankara ihnen jetzt die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts Incirlik im Kampf gegen den IS erlaubt. Das verkürzt die Wege und senkt die Kosten.

Die zynische Politik der Türkei

Zynisch geht die Türkei vor. Ihr Präsident Erdogan war mal ein Verfechter des Ausgleichs mit den Kurden – vor Jahren, als er noch nicht um die eigene Stellung fürchtete. Heute verfolgt er eine doppelbödige Strategie, die vor allem seinem Machterhalt dient. Seine Partei hat die Wahl verloren, ihm fehlt die Mehrheit für die Verfassungsänderung, die seine präsidialen Vollmachten ausweiten soll. Weil er die Regierungskoalition, die ihm das Wahlergebnis aufzwingt, vermeiden will, lässt er die Türkei in eine gefährliche Lage zwischen Frieden und Krieg gleiten – im Kalkül, dann Neuwahlen mit besseren Aussichten auszurufen. Ein Land im Notstand riskiert in der Regel keinen Machtwechsel, sondern stärkt die amtierende Regierung.

Als Deutschland den Kurden Waffen lieferte, war klar: Sie würden sie nach einem Erfolg über den IS nicht zurückgeben, sondern später nutzen, um für ihre nationalen Anliegen zu kämpfen, für Autonomie oder gar einen eigenen Staat – so wie früher die extremistische PKK. Vorhersehbar war auch: Die Kurden handelten nicht nur in Selbstverteidigung oder aus Mitgefühl für die Jesiden. Sie würden eine Gegenleistung erwarten: politische Unterstützung. Die ist der Westen, die ist Deutschland den Kurden jetzt schuldig. Die Bundesregierung muss nicht für einen Kurdenstaat eintreten, der sich aus den kurdischen Gebieten im zerfallenden Syrien und den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak zusammensetzen könnte. Kulturelle und begrenzte politische Autonomie kann die Lösung sein.

Gefährlich wäre es hingegen, die Kurden zurück in den bewaffneten Kampf mit der Türkei zu treiben. Das würde wie ein Rekrutierungsprojekt für Terroristen von morgen wirken. Wie zu Beginn der Iran-Gespräche, als Deutschland alleine nicht genug Gewicht hatte und die USA zögerten, sollte die Bundesregierung die Initiative ergreifen und mit Frankreich und Großbritannien sowie in Absprache mit den USA auf die Türkei einwirken, ihre destruktive Politik in Nordsyrien und im Nordirak zu beenden.

Dauerhaften Frieden wird die Türkei nicht gegen die Kurden, sondern im Ausgleich mit ihnen finden. Auch Erdogan wusste das einmal. Europa muss ihn daran erinnern.

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