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Der abendliche Berufsverkehr auf dem Kaiserdamm in Berlin-Charlottenburg.

© Michael Kappeler/dpa

Lungenärzte kritisieren Grenzwerte: Feinstaub – alles Hysterie?

100 Lungenärzte kritisieren die aktuellen Feinstaub-Grenzwerte. Wie sinnvoll sind die Vorgaben für Schwebepartikel? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Die Debatte um Feinstaub-Grenzwerte in Deutschland ist am Mittwoch neu entfacht worden. Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP), Dieter Köhler, hat einen Aufruf verfasst, in dem er keine wissenschaftliche Begründung für die aktuellen Feinstaub- und Stickoxid-Grenzwerte sieht. Mehr als 100 Lungenärzte haben seinen Aufruf unterschrieben, wie die „Bild“-Zeitung berichtete.

Wie lautet die Kritik?

Die Unterzeichner des Aufrufs kritisieren, dass die geltenden Annahmen zur Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub und Stickoxide jeder gesicherten wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Damit seien auch die Grenzwerte, die etwa für Stickstoffdioxid bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft festgelegt sind, nicht gerechtfertigt.

Argumente sind unter anderem: Wenn die genannten Schadstoffe in leicht über den Grenzwerten liegenden Konzentrationen tatsächlich die unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation errechneten zusätzlichen Todesfälle bedingen würden, müssten Raucher, die bis zu eine Million Mal mehr Feinstaub inhalierten, innerhalb von Wochen sterben.

Insgesamt seien die zugrunde gelegten Studien nicht geeignet, die geltenden Grenzwerte zu rechtfertigen. Dieter Köhler hat entsprechende Kritik schon häufig geäußert, beispielsweise in einem Fachartikel für das Deutsche Ärzteblatt im vergangenen Jahr.

Wie reagieren die Kritisierten?

Die Kritik richtet sich auch gegen die DGP, also genau jene Fachgesellschaft, der der jetzige Wortführer von 2005 bis 2007 als Präsident vorstand. Sie ließ am Mittwoch verlautbaren, dass sie die Stellungnahme „als Anstoß für notwendige Forschungsaktivitäten und eine kritische Überprüfung der Auswirkungen von Stickoxiden und Feinstaub“ ansehe.

Ende 2018 hatte die DGP in einem Positionspapier vor Gesundheitsgefahren durch Feinstaub und Stickoxiden gewarnt und mehr Anstrengungen zur Reduzierung dieser Stoffe gefordert. Zur Verteidigung der geltenden Grenzwerte wird von Umweltmedizinern oft aber ins Feld geführt, dass durch sie auch die Belastung durch andere Schadstoffe verringert werde. Das ist aber nicht immer der Fall.

So stoßen etwa moderne und als sauberer geltende Dieselaggregate vermehrt Partikel sehr geringer Größe aus, die von den derzeit eingesetzten Messstationen gar nicht erfasst werden. Aufgrund ihrer Größe bleiben sie viel länger in der Luft und können tiefer in die Lunge – und wahrscheinlich besser in den Organismus – eindringen. Die Erforschung ihrer Risiken steht noch am Anfang, es gibt aber beunruhigende Hinweise.

Wie gefährlich ist Feinstaub?

Es werden immer wieder Schätzungen veröffentlich, in denen von hohen Zahlen vermeidbarer Todesfälle und stark verringerter durchschnittlicher Lebenserwartung durch Feinstaub und Stickoxide die Rede ist. Die Europäische Umweltagentur etwa rechnete im Oktober knapp eine halbe Million verfrühter Todesfälle pro Jahr für Europa vor.

Tatsächlich aber ist weitgehend unklar, ob und wie gesundheitsschädlich welche Konzentrationen tatsächlich sind. Umwelt-Feinstaubbelastung als konkrete Todesursache etwa wird praktisch nie attestiert. Vor allem aber ist die Qualität der zugrundeliegenden Studien meist niedrig und lässt Rückschlüsse auf ursächliche Zusammenhänge gar nicht zu.

Auch andere Faktoren (etwa, dass an feinstaubbelasteten, vielbefahrenen Straßen eher Menschen wohnen, die auch in gesundheitsbelastenden Berufen arbeiten und auch auf andere Weise weniger gesundheitsfördernd leben) können eine Rolle bei den Ergebnissen dieser Studien spielen. Auch die Formeln, mit denen dann hochgerechnet und bei jenen Zahlen angelangt wird, sind zweifelhaft.

Wie sinnvoll sind die aktuellen Grenzwerte?

Der konkrete Grenzwert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft beruht im Grunde nur auf Schätzungen, und diese stammen auch noch aus einem ganz anderen Bereich als dem Straßenverkehr: der Belastung durch Gasherde in Innenräumen. Ähnlich ist die Situation bei den Feinstaub-Grenzwerten.

Martin Hetzel, Chefarzt der Pneumologie-Abteilung einer Klinik in Stuttgart – einer der Städte mit den größten Problemen bei deren Einhaltung – sagte den „Stuttgarter Nachrichten“, keiner der Patienten auf seiner Station sei „wegen des Feinstaubs hier“. Er sieht eine „ungerechtfertigte Beunruhigung der Bevölkerung“.

Feinstaubalarm in Stuttgart
Feinstaubalarm in Stuttgart

© imago/Arnulf Hettrich

Am Arbeitsplatz gelten auch deutlich höhere Grenzwerte, etwa für NO2 (in Deutschland 950 Mikrogramm/m³, in der Schweiz 6000 µg/m³). Aufgrund der Schwierigkeiten, Rückschlüsse aus den vorhandene Daten zu ziehen, ist es fast unmöglich, sinnvolle Grenzwerte zu definieren. Ein Argument für strikte Grenzwerte ist das Vorsorgeprinzip, zudem sind sie wahrscheinlich zumindest zum Schutz besonders empfindlicher Personen sinnvoll.

Wie reagiert die Politik auf den Aufruf?

Das Bundesumweltministerium verteidigt die geltenden Grenzwerte. Die Gesetzgebung sei darauf ausgerichtet, dass alle Menschen überall und jederzeit die Außenluft problemlos einatmen könnten, sagte ein Sprecher von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD). „Das muss für gesunde Menschen gelten genau so wie für Menschen mit Asthma, für Menschen, die älter sind oder eben vor allen Dingen auch für Kleinkinder.“

Diesem Motiv folgten die Grenzwerte für Stickoxid und Feinstaub. Sie fußten auf einer „soliden wissenschaftlichen Basis“ und folgten der Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dass Luftschadstoffe die Lebenszeit verkürzten und Krankheiten beförderten, sei wissenschaftlich unumstritten, erklärte der Sprecher. Es gehe bei den Grenzwerten um eine dauerhafte Belastung, nicht um Einzelereignisse.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hingegen begrüßte die Stellungnahme. „Der wissenschaftliche Ansatz hat das Gewicht, den Ansatz des Verbietens, Einschränkens und Verärgerns zu überwinden“, sagte er der Funke-Mediengruppe. Die Initiative sei ein wichtiger und überfälliger Schritt.

Die Grünen sprachen hingegen von einem „Ablenkungsmanöver“. Die Debatte „chaotisiert die ohnehin schon unübersichtliche Lage bei den Fahrverboten“, teilte Fraktionsvize Oliver Krischer mit. Ungeachtet des Statements der 100 Experten gebe es „einen breiten Konsens, dass Stickoxide auch schon im geringen Ausmaß schädlich sind und der Grenzwert eigentlich verschärft werden sollte“, sagte Krischer. „Man kann in Deutschland die Uhr danach stellen, dass bei Umweltproblemen die Grenzwerte und die Messmethoden angezweifelt werden.“

Frank Sitta, stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender, forderte hingegen eine Neubewertung der Grenzwerte. „Die Debatte zeigt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um erneut über ein Moratorium für Stickoxid-Grenzwerte im Bundestag abzustimmen.“

Was halten Autoverbände und Industrie von der Stellungnahme?

Der deutsche Autoverband VDA begrüßte sie: „Je mehr Fakten in die Debatte kommen, desto besser." Es brauche Klarheit über die Auswirkungen von verschiedenen NOx-Konzentrationen in der Luft. Der ADAC forderte eine Überprüfung der in der EU geltenden NOx-Grenzwerte. „Wenn Bürger von Fahrverboten betroffen sind, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die geltenden Grenzwerte wissenschaftlich begründet sind“, sagte der Vizepräsident des Autoclubs, Ulrich Klaus Becker.

Die EU-Kommission müsse die wissenschaftliche Grundlage ihrer Grenzwerte rasch unter die Lupe nehmen. Der Vizepräsident des Zentralverbandes Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe, Thomas Peckruhn, forderte, die Grenzwerte für NOx und Feinstaub auszusetzen, bis wissenschaftlich begründete Klarheit herrsche. (mit dpa)

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