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Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn.

© Thomas Samson/AFP

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn: "Wir können das nicht tolerieren"

Polen hätte im gegenwärtigen Zustand keine Chance auf eine Aufnahme in die EU, sagt Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Interview mit dem Tagesspiegel. Die PiS-Regierung schränke den Rechtsstaat ein.

Herr Asselborn, Sie sind der dienstälteste Außenminister in der EU. Haben Sie je eine so schwierige Zeit erlebt wie heute?

Nein. Ich bin seit 2004 Außenminister, und vorher war ich natürlich auch schon ein europäischer Bürger. Ich muss sagen: Was ich jetzt erlebe, ist neu.

Warum?

Wir haben es mit einer nie da gewesenen Ballung der Probleme zu tun. Die EU hat immer wieder einzelne Krisen erlebt, etwa den Streit ums Geld mit der damaligen britischen Regierungschefin Thatcher in den Achtzigerjahren oder das Scheitern der EU-Verfassung 2005. Diese Krisen sind allerdings nicht mit dem vergleichbar, was jetzt alles zusammenkommt: Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist nicht überwunden. Die Europäer werden durch Terrorismus verunsichert. Nationalismus, Populismus und Rechtsextremismus sind auf dem Vormarsch. Und dann droht auch noch eine Schwächung der Gemeinschaft durch den Brexit.

In Ihrer Schreckens-Liste fehlt die Wahl in Frankreich.

Wenn Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden sollte, stünde die Europäische Union vor dem Aus. Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist die Basis Europas. Falls Le Pen gewinnen sollte, wäre dies der Abschied von jenen Verträgen, mit denen für das Europa der Nachkriegszeit alles anfing – die Römische Verträgen von 1957, deren Unterzeichnung sich im März zum 60. Mal jährt.

Der Aufstieg von Le Pen hängt offenbar damit zusammen, dass sie ihren Landsleuten einen Bruch mit dem bisherigen politischen System Frankreichs verspricht.

Was sie verspricht, kann nicht funktionieren. Ihr Motto lautet „Frankreich zuerst“ - ähnlich wie ein Motto, das wir auch derzeit allzu oft auf Englisch hören. Aber wenn wir in der Globalisierung bestehen wollen, dann brauchen wir europäische Kooperation und keine Abschottung.

Würden Sie darauf wetten, dass Le Pen bei der Präsidentschaftswahl verliert?

Sagen wir so: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass in Frankreich, das im Zeitalter der Aufklärung so viel für Europa geleistet hat und das Mutterland der Menschenrechte ist, jemand wie Le Pen heute zur Präsidentin gewählt wird. Das wäre ein Rückfall in die Katakomben des Nationalismus. Ich bin sicher, dass das französische Volk dies nicht zulassen wird.

Bei den Feiern zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge in der italienischen Hauptstadt wollen die EU-27 ohne London einen Neustart versuchen. Gelingt das?

Der Neustart der EU wird nicht unbedingt bei der Feier in Rom stattfinden. Zunächst müssen wir die Bundestagswahlen im Herbst abwarten, bevor zwei grundlegende Fragen geklärt werden können: Wie stehen wir in den 27 Ländern zur europäischen Solidarität? Und akzeptieren wir alle in den Mitgliedstaaten die Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung? Wenn nicht alle EU-Staaten gleichermaßen das Gemeinschaftliche hochhalten, dann ergibt ein Neustart der EU keinen Sinn.

Gegen diese Grundwerte verstoßen EU-Partner wie Polen und Ungarn. Die nationalkonservative Regierung in Warschau muss sich von der EU-Kommission vorhalten lassen, die Unabhängigkeit der Justiz zu missachten. Aber Polen zeigt sich uneinsichtig. Sollen Polens EU-Partner dies tolerieren?

Nein. Wir können das nicht tolerieren. Die EU-Mitgliedstaaten müssen dagegenhalten. Die Mitgliedstaaten dürfen die EU-Kommission im Streit mit Polen nicht allein lassen, denn sie wird das Problem im Alleingang nicht lösen. Die Regierung in Polen verrennt sich bei der Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit immer mehr. Wenn es darum geht, den Rechtsstaat zu verbiegen, hat offenbar der ungarische Regierungschef Viktor Orban Pate gestanden. Aber in Polen kommt noch etwas hinzu: Jaroslaw Kaczynski, der Chef der Regierungspartei PiS, ist ein Ideologe. Er glaubt, dass die EU für Polen ein Bremsklotz ist. Er will eine rechtskonservative Gesellschaftsordnung schaffen, die auf Nationalstaatlichkeit aufgebaut ist. Das heutige Polen unter Jaroslaw Kaczynski könnte nicht mehr EU-Mitglied werden. Polen respektiert die Kopenhagener Kriterien nicht mehr...

...also jene Kriterien, die jedes Mitgliedsland vor einem EU-Beitritt erfüllen muss, darunter die Rechtsstaatlichkeit. Wie sollen die EU-Partner Polens aber die Beschränkung der Justiz ahnden – mit Sanktionen?

Das ist kaum möglich, weil Sanktionen wie etwa ein Entzug des Stimmrechts eine Einstimmigkeit unter den übrigen EU-Staaten voraussetzen würden. Und wir kennen die Position Ungarns. Vielmehr sollte man dem polnischen Volk die möglichen negativen Konsequenzen der Rechtsstaatsverstöße vor Augen führen: Polen setzt sich selbst in der EU auf die Kriechspur. Man darf nicht vergessen: Gegenwärtig profitiert das Land von EU-Fördergeldern in Höhe von vier Prozent der polnischen Wirtschaftsleistung.

Wenn wir schon bei einer Bewertung einzelner Mitgliedsländer in der Europäischen Union sind: Welche Rolle spielt Deutschland in der Euro-Zone?

Deutschland ist unbestritten die Wirtschafts-Lokomotive in Europa. Nur muss man in Berlin gelegentlich auch einmal in den Rückspiegel schauen, um festzustellen, ob noch alle Wagen hinten dranhängen. Eine derartige Rücksichtnahme ist besser als die eindringlichen Appelle an andere Euro-Mitglieder. Deutschland ist stark. Stärke zeigt man besser mit Verständnis für Schwächere. Auch im Sprachgebrauch.

Die sozialistische Regierung in Paris kritisiert gelegentlich, dass Deutschland bei einer möglichen politischen Vertiefung der Euro-Zone eine Bremserrolle einnehme. Stimmt der Vorwurf?

Ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung als Außenminister sagen, dass Frankreich hier genauso bremst. Ich habe im Kreis der Außenminister der sechs EU-Gründerländer meine Amtskollegen aus Deutschland und Frankreich gefragt, ob sie sich eine Verlagerung von Haushaltskompetenzen nach Brüssel vorstellen können. In beiden Fällen war die Antwort sehr zögerlich.

Was Asselborn über das Duell zwischen Merkel und Schulz denkt

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

© Gregor Fischer/dpa

Was denken Sie sich eigentlich, wenn Sie in Deutschland das Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz verfolgen?

Ich habe sehr viel Respekt vor Frau Merkel. Mit Martin Schulz verbindet mich seit vielen Jahrzehnten eine Freundschaft. Schulz macht etwas, das der gesamten Sozialdemokratie in Europa gut tut: Er sagt, dass Sozialpolitik nicht nur im 19. und 20. Jahrhundert ein Anliegen war, sondern auch im 21. Jahrhundert. Dieser Wahlkampf wird interessant werden – und er geht auf Kosten der AfD. Das ist auch nicht schlecht.

Können Sie sich den ehemaligen EU-Parlamentschef Schulz in der Rolle des Kanzlers vorstellen?

Natürlich. Es gab noch keinen SPD-Kanzlerkandidaten, den ich mir nicht auch als Kanzler hätte vorstellen können. Ich gehe davon aus, dass Martin Schulz angesichts seines langjährigen Engagements in der Europapolitik nicht nur ein guter Kandidat ist.

Ein anderer Politiker, den Sie gut kennen, ist ihr Landsmann Jean-Claude Juncker. Als EU-Kommissionschef erreicht er demnächst die Hälfte seiner Amtszeit. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?

Es liegt in der Natur der Sache, dass die EU-Kommission im Zusammenspiel der Akteure in Europa immer die meiste Kritik einstecken muss. Das war immer so – egal wie der Kommissionschef heißt und aus welchem Mitgliedsland er kommt. Derzeit wird übersehen, dass die gegenwärtige Kommission unter Jean-Claude Juncker eine sehr nützliche Arbeit leistet. Sein Zehn-Punkte-Programm zum Beginn seiner Amtszeit, das von der Migration bis zu Sicherheits- und Finanzfragen reicht, bildet eine solide Basis. Es ist auch richtig, wenn der Juncker-Plan für mehr Investitionen in Europa jetzt ausgebaut wird.

Die Punkte, die Sie nennen, stehen für „mehr Europa“. Gibt es aber gerade nach dem Brexit-Votum nicht auch Bereiche, in denen sich Brüssel für „weniger Europa“ einsetzen sollte? Ein Beispiel: In Deutschland und Österreich gibt es Überlegungen, das Kindergeld von EU-Bürgern zu kürzen, deren Kinder im Ausland leben. Aber die Kommission sperrt sich dagegen.

Seit 2015 muss die Kommission Tendenzen unter den Mitgliedstaaten entgegenwirken, die auf eine Entsolidarisierung innerhalb der EU hinauslaufen. So ist es auch bei der aktuellen Diskussion um das Kindergeld. Es würde Europa nicht gut tun, wenn wir auf Kosten der ärmeren Menschen in der EU – also konkret Kindergeldempfänger aus Ländern wie Polen, Rumänien oder Bulgarien – die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten sanieren wollen. Die Kommission hat recht, wenn sie nicht spontan auf diesen Zug ausspringt.

Hat Juncker auch recht mit der Warnung, dass die Briten die EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen auseinander dividieren werden?

Wir sollten gelassen bleiben. Es ist schon nicht so schlecht, dass die 27 EU-Staaten es bis jetzt fertiggebracht haben, sich auf keine Vorverhandlungen mit London einzulassen. Die Verhandlungen beginnen erst, wenn die britische Regierungschefin Theresa May den Antrag zum Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages eingereicht hat. Natürlich müssen wir uns davor in Acht nehmen, dass London nicht nach der Devise „Teile und herrsche“ verfährt, wenn die Gespräche erst einmal laufen. Die EU-27 sollten sich ihrerseits von dem Gedanken leiten lassen, dass Großbritannien für den Brexit weder belohnt noch bestraft werden sollte.

Aber Großbritannien will sich gleichzeitig von der EU-Personenfreizügigkeit verabschieden und sich einen möglichst weit gehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. Wie soll das gehen?

Wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied des Binnenmarktes ist, muss für die Zeit nach 2019 ein Freihandelsvertrag zwischen der EU und London ausgehandelt werden. Sowohl für die Briten als auch die EU-27 muss dabei gelten: Die Verhandlungen sollen zwar mit Engagement geführt werden, aber sie müssen fair und transparent sein. Es wäre katastrophal für beide Seiten, wenn wir uns bei den anstehenden Gesprächen nicht in die Augen schauen könnten. Patzer bei den Verhandlungen könnten zum Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen führen. Der Brexit ist nicht nur für die Historiker interessant. Er kann auch schnell sozialpolitisch sehr weh tun.

Als wären der Brexit und die Schicksalswahlen in Frankreich nicht genug, droht in diesem Sommer auch ein Wiederaufflammen der Griechenland-Krise. Wer ist dafür verantwortlich, die Regierung in Athen oder die Geldgeber?

Ich gehe davon aus, dass Griechenland im Juli keine Probleme bekommen wird, seine Schulden in Höhe von sieben Milliarden Euro zurückzuzahlen. Vorher werden wir eine Vereinbarung über die nötigen Reformen in Athen treffen. Und ab 2018 könnte Griechenland wieder Zugang zu den Finanzmärkten bekommen. So sieht es der Chef des Euro-Rettungsfonds ESM, Klaus Regling. Alles andere geht in die falsche Richtung.

Und das von Ihnen beschriebene Szenario läuft mit oder ohne den Internationalen Währungsfonds ab?

Mit dem IWF. So sehen es ja auch die Beschlüsse der Euro-Gruppe und des Bundestages vor.

Der frühere US-Präsident Barack Obama sprach sich noch für eine Unterstützung Griechenlands aus. Was erwarten Sie von seinem Nachfolger Donald Trump?

Obama hat das Leid der Griechen richtig eingeschätzt. Aber er war Präsident in einer Zeit, in der Regierungspolitik in Washington noch nicht per Twitter gemacht wurde. Was Trumps Haltung zu Griechenland anbelangt, so sollte man sich daran erinnern, dass die Republikaner im Kongress bereits vor der Präsidentenwahl im November sehr kritisch gegenüber der IWF-Beteiligung an den Finanzhilfen für Athen eingestellt waren.

Der Trump-Vertraute Ted Malloch ist ein glühender Brexit-Befürworter. Sollte er US-Botschafter bei der EU werden?

Nein. Der Mann hat ja gesagt, dass er als Diplomat am Niedergang der UdSSR beteiligt war und dies auch als seinen Erfolg sieht. Ein solcher Erfolg genügt. Die EU ist nicht die UdSSR.

Wagen Sie eine Prognose – wo steht die EU in einem Jahr?

In den Niederlanden wird der Rechtspopulist Geert Wilders in einem Jahr nicht an der Regierung beteiligt sein. Frankreich wird einen Präsidenten haben, der für die EU einsteht. In Deutschland wird – in welcher Zusammensetzung auch immer – eine Koalition regieren, die eine positive Haltung zu Europa hat. Beim Brexit werden wir zäh, aber verantwortungsvoll verhandeln. Und Trump wird weniger twittern und mehr ernsthaft regieren.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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