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Politik: Macht der Erinnerung

Von Rüdiger Schaper

Undenkbar. Skandalös. Im Herbst 2005 wird in der Bundesrepublik ein deutscher Schriftsteller angeklagt. Sein Vergehen: Er hat in einem Interview an die Millionen Juden erinnert, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. „Herabsetzung des Deutschtums“ lautet der Straftatbestand. Bei einer Verurteilung drohen dem Romancier bis zu drei Jahre Haft.

Undenkbar. Skandalös. Barbarisch. Das aber ist die Situation, in der sich Orhan Pamuk befindet – in seinem Heimatland, der Türkei. Pamuk hat gegen ein Tabu verstoßen, er hat die „türkische Identität beschädigt“ und es gewagt, vom türkischen Genozid an den Armeniern und Kurden zu sprechen. Dafür wird er verfolgt und gehasst.

Orhan Pamuk wird am Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Eine ausgezeichnete Wahl. Ein Höhepunkt der Frankfurter Buchmesse. Deren Gastland ist in diesem Jahr Korea. Ein geteiltes Land. Auch die Türkei, deren bedeutendster Autor in Istanbul vor Gericht gestellt werden soll, weil er historisch verbürgte Tatsachen ausspricht, ist gespalten, zwischen Tradition und Moderne, Orient und Okzident. Die Türkei drängt, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Was für eine bittere Ironie: Orhan Pamuk gehört zu den leidenschaftlichsten Verfechtern der Annäherung an den Westen. Was für eine politisch-intellektuelle Courage: Pamuks persönlich riskanter Vorstoß in die finstere Vergangenheit könnte die türkische Reformdebatte am Ende befördern.

Nach Europa! Mit jedem Land, das die Grenzen der europäischen Festung ausdehnt, dringt Geschichte an die Oberfläche, verändern sich die Perspektiven. Im März 2004, wenige Wochen vor der so genannten Osterweiterung der EU, geriet die estnische Politikerin Sandra Kalniete ins Kreuzfeuer. Auf der Leipziger Buchmesse hielt sie eine Rede, in der sie Nationalsozialismus und Stalinismus als gleichermaßen kriminell bezeichnete. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, verließ unter Protest den Saal. Und nicht wenige befürchteten, dass sich über die neuen östlichen EU-Mitglieder ein neuer Antisemitismus nach Europa ausbreite.

„Lebensraum“ war das Unwort der Nationalsozialisten, hinter dem sich Vernichtungsfeldzüge und Völkermord verbargen. Wir erleben jetzt, wie sich die Räume der Erinnerung weiten. Wie sich unvergleichliche Grausamkeiten und Verbrechen nicht relativieren, sondern überhaupt einmal wahrgenommen werden müssen. Es sind die Schriftsteller und ihre Bücher, aus denen die Erinnerung spricht – die Biografien der Länder und Völker, die stets neu geschrieben werden. Damit man sich dem Unsagbaren, der Vergangenheit, annähert.

Die Frankfurter Buchmesse ist weltweit das größte Literaturspektakel, ein gigantischer Basar, schon werden neue Rekordzahlen gemeldet. Kommerzieller Overkill: Die rituelle Klage kann man sich schenken. Denn die Literatur ist eine Weltmacht. Orhan Pamuks international erfolgreiche Romane verraten mehr über die Türkei – und uns – als jeder Pauschalurlaub. Eine neue Biografie über den im Westen lange verklärten Vorsitzenden Mao Tse-tung hat das Potenzial, das Bild Chinas und seines Revolutionsführers radikal zu verändern. Es sind Wahrheiten, die schwindeln machen. Die Autoren Jung Chang und Jon Halliday belegen, dass Maos Machtentfaltung mehr Menschen das Leben gekostet hat als Hitlers und Stalins Vernichtungswut zusammen. Pamuk erinnert an eine Million ermordeter Armenier, die die moderne Türkei auf dem Weg ins 20. Jahrhundert auf dem Gewissen hat.

Wir wissen davon wenig oder nichts – ohne Bücher, ohne Schriftsteller. Die Erinnerung ist im Alltag ein Instrument des Aussonderns und Vergessens. In der globalisierten Welt aber wachsen die Zumutungen, nehmen die Dimensionen dessen zu, was wir erinnern müssen. Es ist die Literatur, die das Grauen noch nicht verstehbar, aber sichtbar macht. In der individuellen Erzählung. In der intimen Anschauung, was Menschen wollen und leiden. Auch Barbaren können lesen und schreiben: Gesetze zum Beispiel. Literatur verstößt dagegen.

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