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Politik: Machtkampf in Jugoslawien: Mit Bulldozern nach Belgrad

Draußen auf dem Land braucht es seine Zeit, bis Unzufriedenheit und Verzweiflung in Wut umschlagen. Doch wenn es einmal soweit ist, lassen sich die Gemüter nicht mehr mit faulen Tricks und plumpen Versuchen der Beschwichtigung beruhigen.

Draußen auf dem Land braucht es seine Zeit, bis Unzufriedenheit und Verzweiflung in Wut umschlagen. Doch wenn es einmal soweit ist, lassen sich die Gemüter nicht mehr mit faulen Tricks und plumpen Versuchen der Beschwichtigung beruhigen. Eine spätherbstliche Fahrt durch die serbische Provinz wird zum Hindernislauf. Im aufgewühlten Land dauert jede Reise mindestens doppelt so lang wie sonst. Buslinien haben ohnehin den Betrieb eingestellt, und Züge verkehren nicht mehr. Jede Kleinstadt, die etwas auf sich hält, hat ihre improvisierten Barrikaden. Sie sind meistens unüberwindbar. Manchmal sind es Baumaschinen, die den Weg versperren, oder ganze Lastzüge, die verlassen und quer auf der Straße stehen. Nur Ortskundige kennen die Schleich- und Waldwege, um ein Stück weiterzukommen und schon bald an der nächsten Barrikade zu stranden. Entlang der Straße flattern zerrissene Wahlplakate im Wind, geben Slogans an den Hausmauern Hinweise auf den erbitterten Kampf. Es wird eine nächtliche Fahrt vom tiefen Süden Richtung Hauptstadt.

In Kragujevac, der einst stolzen Industriestadt, wärmen sich ein paar Dutzend Männer an einem hell lodernden Feuer. Eine verschworene Gemeinschaft hält Wache an der Barrikade, doch von Polizei ist in dieser Nacht ohnehin nirgends eine Spur zu sehen. Das Feuer wirft seinen Schatten auf einen rostigen Bagger und einen Lastwagenanhänger. "Wir bleiben hier, bis Milosevic geht und den Sieg von Kostunica anerkennt", bringt einer der Wortführer die Forderung der Protestierer auf den Punkt. Es sind Männer mit gegerbten, verhärmten Gesichtern. Nicht nur das Feuer, auch der Alkohol hilft gegen die herbstliche Kälte.

In der Nacht halten nur wenige Wache, doch am Tag ist die ganze Stadt auf den Füßen. Nachbarn bringen Brot und Getränke. Kragujevac war einst eine rote Hochburg, eine sichere Basis für die Sozialisten von Slobodan Milosevic. Jahr für Jahr hat man die Demütigungen, den Niedergang in die Misere schweigsam und ohne Widerspruch hingenommen. Heute trägt die Region um Kragujevac den traurigen Beinamen "Tal des Hungers". Die ganze Stadt lebte einst von der traditionsreichen Autofabrik Zastava und der gleichnamigen Waffenschmiede. Der Niedergang begann mit dem Zerfall Jugoslawiens. Die Bomben der Nato versetzten dem heruntergewirtschafteten Werk im vergangenen Jahr nur noch einen symbolischen Todesstoß.

Ein Betrug zuviel

Dragan, der Wortführer an der Barrikade von Kragujevac, erhält jeden Monat den Hungerlohn von 300 Dinar ausbezahlt. Das sind inzwischen weniger als zehn Mark. Das reicht nicht einmal, um jeden Tag einen Laib Brot zu kaufen. Deshalb sind die Industriearbeiter von Kragujevac wieder zur Landwirtschaft im Stil des Mittelalters zurückgekehrt. Fast jeder bebaut einen Fleck Boden, um wenigstens für den Sommer etwas kümmerliches Gemüse ziehen zu können. "Dieser Mann hat uns in diese Misere gestürzt", sagt Dragan, der Wortführer, und meint damit Slobodan Milosevic: Wir "können nicht immer in der Isolation leben, wir wollen zu Europa gehören."

Eine scheinbar harmlose Wahl war der Funke, der das Feuer gezündet hat. Eigentlich haben die Männer an der Barrikade vom Spiel der Demokratie, wie sie es bisher gekannt hatten, nichts anderes erwartet. Noch jedesmal ist bei der Auszählung der Stimmen geschummelt worden. Doch dieses Mal scheint das eine Mal zu viel zu sein. Es ist oft von Ehre und Würde die Rede in diesen Stunden an der Barrikade von Kragujevac.

In der Stunde des Protests scheinen die Bewohner von Kragujevac und im ganzen Land ihre Würde wiederzufinden. Ein verführtes Volk bäumt sich auf und will den Peiniger ein für alle Mal abschütteln. In Kragujevac ist man stolz auf die neue Solidarität. Der Streik werde strikt eingehalten, betont Dragan. Schon in der Morgendämmerung um fünf Uhr früh stellen sich gebückte Gestalten vor den wenigen Läden an, die geöffnet haben. Von neun Uhr an gibt es nichts mehr zu kaufen, die Schulen bleiben zugesperrt, und eine Stadt steht still. Ganz anders als in Belgrad, der vornehmen Hauptstadt, schimpft Dragan mit abschätzigem Unterton. Und deshalb will man an diesem Donnerstag dorthin aufbrechen, um die Wut ins Zentrum zu tragen, das erst noch ganz demonstrationsmüde war und wo die Protestler später das Parlament stürmen werden. Auch ganz Kragujevac will am Vormittag mit allem, was fahrbar ist, in die Hauptstadt fahren.

Die Sternfahrt wird zum bisherigen Höhepunkt im Massenprotest gegen den Wahlbetrug vom 24. September und gegen Autokrat Milosevic. Der Konvoi der mehr als 50 Busse aus Cacak, einer anderen Hochburg der Opposition, zieht sich über mehrere Dutzend Kilometer hin. Aus den Fenstern werden Fahnen in den serbischen Nationalfarben geschwenkt. Dort, wo die Polizei den Sternfahrern im Wege steht, setzt man sich schnell durch. Fast immer geben die "Sicherheitskräfte" des Regimes nach. Für alle Fälle führen die Demonstranten von Cacak auf einem Sattelschlepper einen Bulldozer mit. Der soll zum Einsatz kommen, sollte die Polizei von Slobodan Milosevic nicht einlenken.

Zucker vom Regime

In einer Hochhaussiedlung von Neu-Belgrad rüstet sich auch Snjezana, eine junge Chemikerin, für den Protest am Nachmittag. "Wir werden der Welt zeigen, dass wir kein wildes Volk sind", kommt auch die Mutter von zwei Kindern auf die Würde und auf Serbiens Platz in Europa zu sprechen. Wie so oft in den letzten Tagen gibt es wieder mal keinen Strom. Das Regime will die Hauptstadt für den Streik der Bergarbeiter strafen, die keine Kohle mehr fürs Kraftwerk außerhalb Belgrads fördern wollen. Mit etwas Wasser aus dem Boiler wird immerhin ein lauwarmer Kaffee zubereitet. Die Kinder bleiben zu Hause, gehen wie schon seit Montag nicht mehr zur Schule. Auch Snjezana streikt und geht seit Wochenbeginn nicht mehr zur Arbeit im staatlichen Forschungsinstitut. Am ersten Tag war sie die Einzige, die sich dem Protest anschloss. Jetzt macht immerhin schon die Hälfte mit. Am Donnerstag bekommt die junge Chemikerin von ihrem Arbeitgeber einen merkwürdigen Anruf. Sie darf ihren Monatslohn abholen, und dann die zusätzliche Überraschung: Es gibt zehn Prozent mehr als bisher. "Eines der Zückerchen, das uns das Regime verabreichen will!" Snjezana kann über den Anruf nur lachen. Auch für den ebenso überraschenden wie verwirrenden Urteilsspruch des obersten Gerichts, den ersten Wahlgang vom 24. September zu annullieren, hat sie nur Spott übrig: "Milosevic will Zeit gewinnen", sagt sie wie viele in der Hauptstadt.

Snjezanas Mutter glaubt an das Ende des Autokraten: "Ich habe zehn Jahre auf diesen Zeitpunkt gewartet", sagt sie. Zehn Jahre lang hat sie darauf gewartet, dass auch die serbische Provinz aufwacht. Jahr für Jahr haben die Belgrader gegen das Regime demonstriert. Doch das weite Land hat den Hauptstädtern stets schnöde den Rücken zugekehrt. Am Donnerstagnachmittag sind die Bürger von Belgrad mit ihrem Protest nicht allein. Es sind die gegerbten Gesichter der Arbeiter von Kragujevac, Cacak und Nis, die jetzt den Protestmarsch gegen Slobodan Milosevic prägen. In Belgrad scheint sich am Donnerstagnachmittag nach einer Sternfahrt aus dem ganzen Land die Wut der letzten zehn Jahre zu entladen.

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