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Malu Dreyer: Nah bei de Leut

Niemand findet sie unsympathisch, nicht mal ihre politische Konkurrenz. Trotzdem hat ihr kaum einer zugetraut, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz zu werden – weil sie MS hat. Doch Malu Dreyer stellt sich ihrer Krankheit wie allem. Mit Mut.

Sie kann sich genau daran erinnern. Ihre Eltern, Familie, Freunde stehen am Flughafen in Frankfurt am Main, sie wird ein Jahr als Austauschschülerin nach Clermont in Kalifornien gehen. Sie ist 16. Damals, in den siebziger Jahren, ist das noch eine große Sache: ohne Internet, Skype und günstige Telefonverbindungen. Es ist ein aufwühlender Abschied. Alle heulen, nur sie nicht. Wenn man sie fragt, woher ihr Mut kommt, erzählt sie diese Geschichte. Noch heute sieht sie sich die Treppe hinunter zum Ausgang laufen und dann hoch ins Flugzeug, als würde sie hüpfen, fröhlich, und sie sagt, sie habe ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit gespürt.

Malu Dreyer, 51, künftige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und damit Nachfolgerin des erkrankten Kurt Beck, bittet freundlich in ihr Büro in Mainz. Draußen im Flur hängen bunte Bilder, von Menschen mit Behinderung gemalt, hier drinnen am runden Konferenztisch sind die Stühle in dunklem Lila bezogen. Sie sitzt vor einem, lächelnd, charmant, nie bestimmend, aber immer klar auf den Punkt. Draußen steht der Rollstuhl in einer Ecke, sie benutzt ihn immer dann, wenn die Wege zu anstrengend werden. Sonst stützen sie ihre Mitarbeiterinnen. Malu Dreyer hat Multiple Sklerose (MS), eine Krankheit des zentralen Nervensystems, die bisher nicht heilbar ist.

Bis heute hält sie Kontakt zu dieser Gastfamilie, die sie damals vor 35 Jahren kennengelernt hat. In diesem Sommer reiste sie mit ihrem Mann in die USA und traf sie wieder. Sie hat die neuen Erlebnisse der Reise als Mutmachmittel inhaliert, die Bilder im Kopf abgespeichert. Den Besuch am Grand Canyon etwa, wo sie mit dem „Rolli“, wie sie sagt, direkt oben an der Felskante stand, auf einem für Behinderte barrierefreien Weg. Bis heute kann sie auch die Bilder und Gerüche von damals abrufen. Es ist ein intimes Gefühl, das sie seitdem in sich trägt und das man vielleicht so übersetzen kann, ohne dass sie dagegen Einwände hätte: Mir kann nichts passieren, ich habe alle Kraft der Welt.

Es gibt in dieser Frau einen Drang zum Ausbrechen. Sie würde das zwar niemals so formulieren und lieber politisch korrekt von Freiheit sprechen. Aber nun sitzen vor ihrem Ministerbüro in Mainz diese zwei Männer und warten. Sie wollen ihr für ihr künftiges Spitzenamt den Kommunalen Finanzausgleich erklären. Eine Mitarbeiterin drängelt schon, und übers Handy erreichen sie auch dauernd Hinweise auf die kommenden Pflichten. Da flüstert die künftige Regierungschefin leicht ungehalten: „Kommen die Termine halt durcheinander.“

Die Geschichte über den Mut der Marie-Luise Dreyer fängt schon bei ihrem Namen an. Sie kichert jetzt ein bisschen und sagt, dass diese „Marie-Luise“ ärgerlicherweise nun wieder aufgetaucht sei. Dabei ist sie mit 13 Jahren zu ihren Eltern marschiert und hat verkündet, dass sie von jetzt an „Malu“ heißen werde. Damit war die Sache klar – der andere Name, hat sie damals beschlossen, sei einfach unpassend für eine Person wie sie.

Aus der SPD ist zu hören, dass sie durchaus Widerspruch duldet und dass sie zuhören kann. Ihre Hände liegen ruhig auf dem Tisch. Sie erklärt geduldig, wie das ist, wenn einem die Beine nicht immer gehorchen, man aber dabei keinen Schmerz empfindet. Sie sagt: „Ich wollte nicht über die Krankheit definiert werden, deshalb bin ich auch lange Zeit damit nicht an die Öffentlichkeit gegangen.“ Diesen Widerstand, quasi gegen ihre eigene Angst, hat sie aufgegeben und zugelassen, dass sie seitdem immer auch die Frau mit dem Kürzel „MS“ ist.

Wen man auch über Malu Dreyer fragt, niemand findet sie unsympathisch, nicht einmal ihre politische Konkurrenz von der CDU. Hört man sie selbst reden über sich oder über Politik, fällt einem ihre Fähigkeit zur Empathie auf. Für einen Spitzenpolitiker ist diese Kompetenz ein großes Glück. Denn das Gefühl, verstanden zu werden, wirkt auf Menschen immer versöhnend und schafft Vertrauen.

Dreyer hat eine schleichende Form der Multiplen Sklerose

Von außen betrachtet, aus dem fernen Berlin, ist es trotzdem eine irritierende Geschichte, dass nun einer wie Kurt Beck, 18 Jahre im Amt, aus gesundheitlichen Gründen aufhören muss und eine Nachfolgerin trotz ihrer gesundheitlichen Probleme wählt. Multiple Sklerose ist den Ärzten noch immer weitestgehend ein Rätsel, eine Krankheit der 1000 Gesichter, weil sie bei jedem anders und auf jeden Fall unberechenbar verläuft. Die Mehrheit der Patienten hat eine klassisch schubförmige MS, Dreyer eine schleichende Form. Ein ehemaliger Minister, der sie gut kennt, sagt: „Sie hat immer Kraft gezogen aus ihren Aufgaben. Auch diese Aufgabe wird ihr Kraft geben.“

Sie glaubt fest daran, dass die MS bei ihr günstig verlaufen werde. Und weil sie genau so fühlt, ist diese Geschichte erst denkbar geworden.

Zunächst einmal ist all dies aber ein gelungener Coup des bedrängten Ministerpräsidenten. Kurt Beck, seit 1979 Abgeordneter, seit 1994 Landeschef, ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender in schwerer Zeit, ist ja nicht irgendwer. Er ist sozusagen eine lebende sozialdemokratische Legende – politisch fehlbar, aber menschlich anständig. Zuletzt war er nicht nur gesundheitlich angeschlagen, das Debakel um den insolvent geratenen Nürburgring, die wachsenden Schulden und die scharfen Angriffe der Opposition haben ihn geschwächt. Seit zwei Jahren wird über seine mögliche Nachfolge spekuliert. Nur Malu Dreyer galt, das wurde stets aus der SPD gestreut, wegen ihrer Krankheit nicht als Kandidatin.

Sie selbst hat übrigens das Amt nie öffentlich ausgeschlossen, und Kurt Beck auch nicht. Und wenn man sie heute fragt, ob sie sehr lange überlegen musste, als der Ministerpräsident angerufen hat, um ihr die Nachfolge anzubieten, antwortet sie: „Ich wusste die Antwort schon.“

Beck und seine Frau kennen die Familie von Malu Dreyer lange. Sie schätzen sich, besuchen einander, feiern manchmal gemeinsam. Malu Dreyers Mann, Klaus Jensen, wurde 1994 von Kurt Beck als Staatssekretär ins rheinland-pfälzische Sozialministerium geholt. Damals kannten sich Dreyer und Jensen noch gar nicht. Der heutige Oberbürgermeister von Trier, parteilos, ließ sich 1999 in den einstweiligen Ruhestand versetzen, um seine damalige, erste Frau zu pflegen, die 2001 verstarb und mit der er drei Kinder hat.

Dreyer und Jensen lernten sich erst später kennen, und als sie 2004 heirateten, hatte Kurt Beck 2002 die damals 41-Jährige längst zur Ministerin in dem Ministerium gemacht, aus dem Jensen aus privaten Gründen ausgeschieden war. Er war unter anderem Landesbehindertenbeauftragter, berufliches Spezialgebiet: Sozialarbeit. Zehn Jahre lang war Malu Dreyer eine bundesweit anerkannte Sozial- und Gesundheitspolitikerin.

Kurt Beck kennt sie also sehr gut. Er war einer der Ersten, der von ihrer Krankheit wusste – sie war für ihn immer die Wunschkandidatin auf seine Nachfolge. Aber Beck war sich lange nicht sicher, ob er ihr ein solches Amt zumuten konnte, das im Laufe der Jahre selbst für ihn oft auch Zumutung war. Sie hatten privat immer mal wieder darüber gesprochen, aber nie abschließend. Beck wusste, dass die Nürburgring-Affäre auch die öffentlich gehandelten Kandidaten, Fraktionschef Hendrik Hering und Innenminister Roger Lewentz geschwächt hatte. Aber das allein war nicht der Grund, Malu Dreyer die entscheidende Frage zu stellen. Beck hat den anderen einfach nicht zugetraut, nah genug bei de Leut zu sein. So wie er.

Die SPD erwartet einen neuen Umgangsstil

Nun sitzt Malu Dreyer in ihrem Mammutministerium – Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie – und bereitet sich akribisch auf ihre neue Tätigkeit vor. Jeden Tag erscheinen Abordnungen aus anderen Ressorts, die sie zu sich bestellt, um über die wichtigsten Fragen zu reden und sich einweisen zu lassen. Man muss ein Amt auch lernen.

Aus der SPD ist bereits zu hören, dass man sich einen neuen Umgangsstil erwarte, dass die Partei mitgenommen werden möchte. Solche Dinge hatte man sonst selten gehört. Daraus lässt sich einerseits ablesen, dass Kurt Becks Stil des allmächtigen, wenn auch gütigen Landesvaters entgegen anderen Beteuerungen keineswegs so unumstritten war. Andererseits scheinen manche Funktionsträger nun zu hoffen, man könne hinter der netten Frau Dreyer endlich sein eigenes Ding drehen.

Die künftige Ministerpräsidentin, im Januar wird sie offiziell gewählt, kichert jetzt wieder ein wenig in sich hinein. Dann beugt sie sich staatstragend über den Tisch und sagt: „Ich höre zu, dann wäge ich alle Positionen ab, und schließlich entscheide ich. Niemand muss sich sorgen, auch nicht meine eigene Partei, dass ich keine harten Entscheidungen fällen könnte.“ In der Staatskanzlei wird sie bald einige ihrer Vertrauten platzieren. Sie sagt: „Ich will immer die Besten um mich haben, ich will Widerspruch hören, selbstbewusst vorgetragen und inhaltlich kompetent.“ Dieser Satz ist auch eine Wettbewerbsaufforderung an ihre Parteikollegen.

Malu Dreyer kommt aus einem bürgerlichen Haus, aufgewachsen ist sie in Neustadt an der Weinstraße. Hier steht das Hambacher Schloss, hier wird jährlich die deutsche Weinkönigin gekürt. Dreyers Vater war Schuldirektor und in der CDU aktiv, die Mutter Erzieherin. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika in die Pfalz hat Malu Dreyer aus ihrer Sicht das Beste gemacht aus ihrem Leben. Jedenfalls fühlte es sich immer gut an.

Eine Zeit lang studierte sie Theologie, wurde dann aber Juristin. Und auch wenn Juristen wie sie einen Hang zur Kontrolle haben und zur doppelten Absicherung, hatte sie immer den Mut, beruflich neu anzufangen. Erst war sie Staatsanwältin und Richterin auf Probe in Bad Kreuznach, wechselte dann in den wissenschaftlichen Dienst des Landtages und wurde schließlich als Parteilose gefragt, ob sie nicht Bürgermeister-Kandidatin für die SPD in Bad Kreuznach werden wolle. Sie wollte – und sie wurde Bürgermeisterin. Dann hat sie sich eben, wie sie sagt, „fit gemacht“ für diesen Job.

2004 ist Malu Dreyer zu ihrem Mann und seinen drei Kindern nach Trier gezogen, in ein sehr spezielles Wohnprojekt. In dem Mini-Dorf mitten in der Stadt gibt es verschiedene Höfe, in denen immer ein Dutzend Familien oder auch Singles wohnen, Behinderte und Nichtbehinderte, Reiche und Arme. Voraussetzung, um hier zu wohnen, ist ein Interesse an dieser Nachbarschaft. Die künftige Ministerpräsidentin wird dort wohnen bleiben, aus Pragmatismus und Demut zugleich.

Eine andere Frau, die ebenfalls in das Amt der Ministerpräsidentin drängt, sitzt an diesem Tag einige hundert Meter entfernt von Malu Dreyer in der Mainzer CDU-Landesgeschäftsstelle und versucht mit allen Mitteln, möglichst den Namen der Konkurrentin nicht auszusprechen. Julia Klöckner, CDU-Chefin in Rheinland-Pfalz, Jahrgang 1972, ist frech, laut und manchmal aggressiv wie sonst nur Männer in der Politik. Es war der richtige Stil, um gegen Beck anzutreten. Mit Herz und Schnauze. Sie hat Beck bei den vergangenen Landtagswahlen damit an den Rand einer Niederlage gebracht, er rettete sich in eine Koalition mit den Grünen.

Aber jetzt wirkt Klöckner einen Tick zu aufgesetzt, weil sie noch immer auf Angriff gepolt ist. Sie erhebt den Anspruch, dass die CDU die Rheinland-Pfalz-Partei sei. Sie redet sehr schnell und sehr selbstbewusst. Julia Klöckner weiß noch nicht, wie sie ihre Taktik ändern soll. Dreyer hat Klöckner in den Umfragen bei den Sympathiewerten bereits überholt. Jetzt quetscht sich Klöckner doch noch einen Satz zu Dreyer heraus: „Ich freue mich über jede Frau“, sagt sie süßsauer. Aber es gehe hier nicht um Frauen, sondern darum, dass die Probleme in Rheinland-Pfalz bestehen blieben.

Das könnte passieren. Der Landesrechnungshof nennt die Verschuldung des Landes besorgniserregend und warnt seit Jahren, dass die Regierung die Ausgabenseite nicht unter Kontrolle habe. Dreyer sagt nichts Konkretes zu den Finanzen, sie sagt nur: „Wir werden weiter sparen. Aber Jugend und Bildung bleiben unsere Schwerpunkte.“ Es wird jetzt auf ihren Mut ankommen, hart und unbequem zu sein.

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