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Mandela und Helmut Kohl 1995 beim Staatsbesuch des damaligen Bundeskanzlers in Südafrika.

© dpa

Mandela: Auf den Spuren des Nationalhelden

Tagesspiegel-Korrespondent Wolfgang Drechsler hat miterlebt, wie Nelson Mandela Südafrika nach dem Ende der Apartheid verändert hat. Ein persönlicher Abschied von einem großen Staatsmann.

Jean du Plessis wird den Tag im September 1995 gewiss nie vergessen. Es war der Tag, an dem Helmut Kohl, damals deutscher Bundeskanzler, zu seinem ersten und einzigen Staatsbesuch in Südafrika weilte. Ein Jahr zuvor war Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten des früheren Apartheidstaates gewählt worden. Nun pilgerte auch Kohl ans Kap, um dem Freiheitskämpfer seine Aufwartung zu machen. Als die beiden Staatsmänner nach einem Spaziergang durch den Parlamentsgarten zum Amtssitz Mandelas zurückschritten, erkannte du Plessis seine Chance: Während der Pressetross artig hinterhertrabte, platzierte er sich direkt vor den beiden Staatsmännern und schoss im Rückwärtsgehen Fotos. Dabei vergaß er den Springbrunnen in der Gartenmitte - und stürzte kopfüber hinein. Während Helmut Kohl mit einem Lächeln abdrehte, eilte Mandela dem Pechvogel galant zur Hilfe. „Noch Jahre später stellte er mich auf Empfängen stets als seinen privaten Poolfotografen vor“ erinnerte sich du Plessis kürzlich voller Nostalgie.

Für einen Korrespondenten, der damals aus dem Parlament in Kapstadt berichtete, sind die fünf  Präsidentschaftsjahre Mandelas gespickt mit solchen Anekdoten über Südafrikas großen Versöhner, der gestern im  Alter von 95 Jahren an Altersschwäche und den Folgen einer anhaltenden Lungeninfektion verstarb, die ihn seit zwei Jahren plagte. Auf der einen Seite war es ein großartiges Privileg, Mandelas Amtszeit aus der Nähe zu erleben. Auf der anderen war es zeitweise sehr schwer, als junger Journalist objektiv über einen Mann zu schreiben, den die Welt schon damals wie keinen anderen vergötterte und der die Menschen mit seinem Auftreten und Charisma jedes Mal elektrisierte.

Besonders beeindruckte, wie natürlich Mandela den Mantel der Macht trug: Nervosität war ihm fremd. Auch schien es ihn überhaupt  nicht zu stören, die langen, langweiligen Reden im Parlament vorzutragen, die ihm seine Mitarbeiter geschrieben hatten. Doch hin und wieder nahm er mitten im Text die Brille von der Stirn, um frei zu sprechen – und auf der Pressetribüne horchte man sofort auf, weil Mandela nun das sagte, was er eigentlich sagen wollte. Noch mehr beeindruckte, dass Mandelas Präsenz den Gesetzen der Macht zuwiderlief: Seine Ausstrahlung fußte nicht etwa darauf, dass er die große Bühne suchte, sondern -  ganz im Gegenteil - vor allem darauf, sich selber nicht übermäßig ernst zu nehmen. Anders als bei den meisten anderen Staatslenkern war das Geheimnis seiner Macht, dass er sie gerade nicht aktiv suchte.

Viele Kollegen von damals erinnern sich heute mit Wehmut an die stets herzlichen Begrüßungen durch Mandela. "Natürlich kenne ich Sie", pflegte der 1,90-Meter-schlanke Mann Vorstellungsrituale zu unterbrechen – und gab so jedem Grünschnabel ein Gefühl enormer Bedeutsamkeit. Auch war Mandela der einzige Präsident, der sich stets von seinem Platz erhob, wenn er begrüßt wurde. Die große Geste und seine Gabe, auch einfache Zeitgenossen und politische Gegner wertzuschätzen, gelten als eine seiner größten Stärken. Erst diese „Kunst der Verführung“ ermöglichte es ihm auch, die scheinbar zementierten Rassenschablonen am Kap zu sprengen. Wie nur wenige andere hatte er ein instinktives Gespür für den Umgang mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe.

Seine Leibwächter kannte er nicht

"Allerdings versteckte sich hinter seinem jovialen Gebaren und dem gütigen, ja fast seligen Lächeln bei aller Wärme auch ein Mann, der sehr genau um die Macht wusste, die ihm seine Rolle als Gründervater des neuen Südafrika beschert hatte", schreibt sein Autobiograf Richard Stengel, der ihn in den ersten Jahren nach der Freilassung viel begleitete. „Er mochte gegenüber Kellnern und Küchenpersonal die gleiche Höflichkeit wie gegenüber Diplomaten und anderen Würdenträgern offenbaren. Doch die Namen seiner Leibwächter kannte er nicht“.

Am leichtesten fiel es Mandela stets, Fremde mit seinem Charme zu begeistern. Seine Auftritte in der Öffentlichkeit gerieten nicht selten zu Huldigungen; stehende Ovationen waren an der Tagesordnung.  „Doch gerade gegenüber Nahestehenden, wie der eigenen Familie, konnte Mandela ausgesprochen kalt und hart sein“, beobachtet Stengel. Seine Person sei weit komplexer als viele Bewunderer glaubten. Auch Minister aus seinem Kabinett sprechen offen von einem autokratischen Zug und einem Hang, an einmal getroffenen Entscheidungen unbedingt festzuhalten. Vermutlich erklärt genau dies auch seine Nibelungentreue gegenüber dubiosen Führern wie Gaddafi oder Castro. Selbst viele seiner Weggefährten, die lange Jahre mit ihm auf Robben Island einsaßen, räumen heute ein, ihn nicht wirklich gekannt zu haben.

Wenn Kinder kamen, ließ er die Journalisten stehen

Unter Kindern fühlte er sich stets besonders wohl. Wie wohl, zeigten die Pressekonferenzen, die Nelson Mandela, damals noch als Präsident von Südafrika, in seinen Amtsjahren oft auf den Stufen vor seinem Kapstädter Amtssitzes abhielt, gleich neben einem stark frequentierten Fußweg. Für gewöhnlich endete das offizielle Prozedere mit dem jeweiligen Staatsgast immer dann, wenn Mandela am Zaun eine Gruppe von Schülern entdeckte und schnurstracks zum Händeschütteln hinüberlief – seinen Besucher aber auch dessen entsetztes Sicherheitspersonal im Schlepptau.  Mit Vorliebe ließ er die begeisterten Schüler bei solchen Anlässen wissen, wie sehr er sich freue, sie treffen zu dürfen. Auch die Frage nach den  Berufswünschen, die Mandela stets mit einem wohlwollenden Kopfnicken quittierte, stand ganz obenan.

Vermutlich speist sich Mandelas tiefe Liebe zu Kindern aus seinen einsamen Jahren auf der Sträflingsinsel Robben Island, wo ihm lange Zeit alle Kontaktbesuche verwehrt waren, selbst die Berührung von Kindern. Christo Brand, der damals als Wächter auf der Insel arbeitete, erzählte später wie er Mandela nur ein einziges Mal weinen sah – aus Verzweiflung darüber, dass er seinen von Ehefrau Winnie mitgebrachten kleinen Enkel nicht halten durfte. Mit einem Trick gelang es Brand  schließlich doch, dass Mandela das Baby zumindest kurz in den Arm nehmen konnte. „Er küsste den Kleinen, schmiegte ihn fest an sich – und musste doch gleich wieder von ihm lassen. Tränen liefen ihm übers Gesicht“ erzählt Brand. Kein Wunder, dass die Journalistin Charlene Smith, die eines von Dutzenden Büchern über Mandela schrieb, zur Erklärung der tiefen Zuneigung seines Landes für Mandela einen Kindervergleich bemüht: „Südafrika war eine Nation misshandelter Kinder“ schreibt sie. „Er kam aus dem Nichts - und liebte uns alle.“

Er führte den ANC zu einem großen Wahlsieg

„Wer Hass verspürt, der kann nie frei sein“ sagte Mandela kurz nach der Freilassung aus der Haft im Februar 1990 - und kleidete sein Lebensmotto damit in Worte. Was nach dem legendären 11. Februar 1990 geschah, als Mandela Hand in Hand mit seiner damaligen Ehefrau Winnie aus den Gefängnismauern schritt, ist heute längst Geschichte: Der einst prominenteste Gefangene der Welt führte seinen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) in den ersten freien Wahlen des Landes im April 1994 zu einem überwältigenden Wahlsieg und wurde erster schwarzer Präsident des früheren Rassenstaates. Sein stetes Bemühen um eine  Aussöhnung mit den Weißen und sein unverbrüchliches Festhalten an einer Verhandlungslösung gelten heute als die größte Leistung des  Mannes, der mit 75 Jahren erst spät triumphierte. Weltweit schlug ihm dafür höchste Bewunderung entgegen.

Aber noch etwas zeichnet Mandela besonders aus: Anders als viele andere afrikanische Gründerväter trat er nach nur einer Amtszeit 1999 zurück – und setzte damit ein Beispiel, das in Afrika heute noch immer zu den grossen Ausnahmen zählt. Allerdings wurde Mandela nach seiner Freilassung auch schnell mit der Realität Südafrikas konfrontiert: Hatten nicht wenige in ihm einen politischen Messias gesehen, so zeigte sich in den folgenden Jahren trotz einiger spektakulärer Erfolge, dass selbst er die Probleme des rassisch zerrissenen Landes nicht mit Handauflegen heilen konnte. Anders als in den vielen Sonntagsreden haben sich die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe am Kap seit dem Ende der Apartheid nicht verbrüdert. Statt Miteinander leben Schwarz wie Weiß noch immer eher nebeneinander, jetzt allerdings in Frieden, was weit mehr ist als man noch vor einem Vierteljahrhundert erwarten durfte, als dem Land im Westen regelmäßig ein blutiger Rassenkrieg prophezeit wurde.

Er selbst wollte nie als Held gefeiert werden

Mandela selbst hat immer wieder davor gewarnt, ihn in einer heldenlosen Zeit unkritisch zum Helden zu machen. Viele taten es dennoch, weil sie seine Komplexität nicht verstehen wollten. Er selbst hat seine Fehler oft anerkannt, wie etwa das Versäumnis, in seiner Amtszeit mit mehr Nachdruck gegen die Ausbreitung der Aids-Epidemie am Kap vorzugehen. Nach den langen Jahrzehnten in der Politik war Mandela in den letzten Jahren doch noch etwas Zeit für seine Familie und all die Kinder vergönnt, die er in seinem Kampf für mehr Gerechtigkeit so lange entbehren musste.  „Ich möchte in mein Dorf zurückkehren und über die Hügel meiner Kindheit wandern, dorthin wo einst alles begann“ schreibt er in seiner Autobiographie „Der lange Weg zur Freiheit“. Mit der Rückkehr nach Qunu , in seine kleine Welt am östlichen Kap, wo er bis Ende letzten Jahres lebte, ehe die jüngsten Krankenhausaufenthalte den Umzug nach Johannesburg notwendig machten,  ist er dem Beispiel vieler Afrikaner gefolgt, die sich für ihre letzten Jahre in die Heimat zurückziehen. Man mag nun streiten über das, was bleibt, vor allem jetzt, wo seine Nachfolger Mandelas  Erbe in erbitterten Machtkämpfen schneller als erwartet verspielen. Aber etwas Großes wird dennoch Bestand haben von der Ära des Nelson Mandela – etwas, das für viele inzwischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist: Südafrikas Menschen leben heute in einem freien Land, auch wenn es noch immer viel Armut, Kriminalität und anderen sozialen Konfliktstoff gibt. „Seine Ideale und sein Wunsch nach Freiheit haben am Ende gesiegt“, sagte einst Colin Eglin, ein großer südafrikanischer Liberaler, der selbst am letzten Wochenende verstarb. „Wir können uns unendlich glücklich schätzen, am Kap einen solch reifen Revolutionär gehabt zu haben.“

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