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Ex-Widerstandskämpfer Willy Brandt und das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger 1966 vor ihrer gemeinsamen Koalition.

© Wolfgang Weihs/dpa

Martensteins kleine Geschichtsstunde: Alle waren unfähig, nur einer nicht

Unser Kolumnist macht sich Gedanken über eine schon immer kapriziöse FDP, die Vergangenheit so mancher SPD-Politiker und warum die CDU so zügig Kanzler absägen kann. Eine Glosse.

Eine Glosse von Harald Martenstein

In der Debatte über die Regierungserklärung ist ein fast vergessener Name aus der Gruft der Geschichte wiederaufgetaucht: Kiesinger. Christian Lindner von der FDP hat Angela Merkel mit dem früheren CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger verglichen, der die BRD in stark reformbedürftigem Zustand und keineswegs besenrein an den Nachfolger übergeben habe. Merkel würde, wenn sie nicht endlich aufwache, als eine Art zweiter Kiesinger in die Geschichte eingehen, mit anderen Worten, als eine Null.

Wie war das damals noch gleich? Vor Kiesinger ist Ludwig Erhard, genannt „der Dicke“, Chef der Regierung gewesen, anfangs ein parteiinterner Superstar wie Martin Schulz. Er galt aber bald als Trantüte und Wählerschreck. Fast alle in der Partei hatten die Nase voll von dem Dicken. Die FDP zog ihre Minister aus der Regierung zurück, der Grund war bedeutungslos, es ging darum, Erhard zu stürzen. In der Union gab es keinen Kronprinzen, ähnlich wie heute. In der Fraktion wurde also einfach zwischen drei Kandidaten abgestimmt. Kiesinger gewann und begann, mit der FDP, deren Vorsitzender „der schöne Erich“ genannt wurde, über eine neue Koalition zu verhandeln.

"Häuptling Silberzunge"

Dann passierte das Gleiche wie vor einigen Monaten – man sprach und sprach und wurde sich mit dem schönen Erich einfach nicht einig. Völlig überraschend verbündete sich Kiesinger mit der SPD. Das war eine Sensation. Kiesinger war 1933 in die NSDAP eingetreten und hatte es im Außenministerium zum stellvertretenden Abteilungsleiter gebracht, befasst auch mit Propagandaaufgaben. Wegen seiner Redegabe hieß er „Häuptling Silberzunge“. Die Amis hatten die Silberzunge wegen ihres braunen Belags sogar für 18 Monate eingesperrt. Sein Partner Willy Brandt, genannt Willy, war Widerstandskämpfer, der SPD-Fraktionschef Wehner, genannt Onkel Herbert, stammte aus den Beständen der KPD. Damit die Mischung noch wilder wird, steuerte auch die SPD einen echten Ex-Nazi und langjährigen SA-Kämpfer zum Kabinett bei, den Wirtschaftsminister Schiller, genannt Plisch, der schnell populär wurde, andere Minister hießen „Plum“ und „der Schorsch“.

Das kann man mit heute nicht vergleichen. Für heute kann man daraus trotzdem einiges lernen. Erstens: Kein politisches Bündnis, das heute unmöglich scheint, könnte nicht übermorgen Wirklichkeit werden. Zweitens: Die FDP war immer schon kapriziös und ihre Vorsitzenden werden allzu oft auf ihren Körper reduziert. Drittens: Die CDU ist durchaus in der Lage, Kanzler zügig abzusägen. Während Silberzunge mit Willy verhandelte, war der Dicke immer noch Kanzler und schaute ohnmächtig zu. Exkanzler Konrad Adenauer aber, genannt „der Alte“, erklärte, außer ihm seien in der CDU sowieso alle unfähig, was vielleicht sogar stimmte.

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