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Tausende versammeln sich auf dem Tharir-Platz in Kairo.

© dpa

Martin Gehlen berichtet aus Kairo: Tahrir-Platz ist gerammelt voll

Nervenkrieg am Nil. Das Ringen zwischen dem starrsinnigen Diktator und seinem Volk geht in die wohl letzte Runde. Seit den frühen Morgenstunden strömen die Menschen aus allen Himmelsrichtungen auf den Tahrir-Platz.

„Noch ein letzter Stoß, und er ist weg“, skandieren sie. Schon vor Sonnenaufgang haben sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht - Frauen, jung und alt, verschleiert und unverschleiert, Herren im Nadelstreifenanzug und Männer in Bauarbeiterkluft sowie viele Kinder, die diesen Tag an der Hand ihrer Eltern miterleben wollen. Bereits am Mittag ist der Platz gerammelt voll, die gesamte Innenstadt Kairos quillt über von den Massen. „Ich bin erst sieben Monate alt und ersticke schon“, hat Samil Agouz auf sein Plakat geschrieben, während Ehefrau Sara den kleinen Yussef in ihren Armen wiegt. 13 Mal hat der 45-jährige Chemiker im Gefängnis gesessen – „heute ist unser Feiertag, heute befreien wir unser Land“, sagt er. „Wenn er seine Haut noch retten will, sollte Mubarak jetzt verschwinden“, ließ Gegenspieler Mohamed al-Baradei bereits am Morgen per Zeitungsinterview ausrichten und setzte dem 82-Jährigen ein Ultimatum bis spätestens Freitag. An einem der Ampelmaste auf dem Tahrir-Platz baumelt eine Mubarak-Puppe.

Vor genau einer Woche hatte hier alles als „Tag des Zorns“ begonnen unter den Augen der Bronzestatue von Omar Makram, dem ägyptischen Freiheitskämpfer gegen Napoleon. Letzten Dienstag waren es nur Zehntausend, jetzt sind es weit mehr als eine Million. Damals hatten sie Angst vor der berüchtigten schwarzen Sonderpolizei, heute sind die Prügelbrigaden mit ihren Tränengasgranaten verschwunden und Menschen campieren nachts friedlich auf den Grünflächen wie bei einem Pop-Konzert. Einzig das Militär kontrolliert ruhig und freundlich die Zugänge auf den Platz zusammen mit den Ordnern der Volksbewegung.

Am Abend zuvor hatte Ismail Etman, Sprecher der Armee, im staatlichen Fernsehen bereits den Ton gesetzt. Die Anliegen des „großen ägyptischen Volkes“ seien legitim und die Armee werde nicht auf die Menschen schießen, erklärte er. Kurz danach antwortete das bedrängte Regime durch den neuen Vizepräsidenten Omar Suleiman. Man werde „umgehend“ den Dialog mit allen politischen Gruppen suchen und politische Reformen einleiten, verkündete der langjährige Geheimdienstchef eine Stunde vor Mitternacht. „Bevor Mubarak nicht weg ist, gibt es nichts zu verhandeln“, ließ ihn die Oppositionsbewegung in einer zweizeiligen Erklärung abblitzen.

Seitdem scheinen innerhalb der Staatsmacht die Fronten geklärt. Die Armee ist nicht bereit, das Regime durch Gewehrkugeln zu retten. Sie versteht sich allein als Bollwerk gegen Chaos und Anarchie. Mit der aufmüpfigen Bevölkerung aber fertig werden, das müssen aus Sicht der Generäle Mubarak und seien Getreuen allein – sei es durch politische Zugeständnisse an die Opposition, sei es durch Reformen oder sei es durch zivile Schikanen. So wurde am Dienstag der gesamte Zugverkehr im Land stillgelegt, bei Internet und SMS ist Ägypten seit Tagen total von der Außenwelt abgeschnitten. Polizei und Militär sind angewiesen, an den Überlandstraßen die Busse Richtung Befreiungsplatz aufzuhalten. Das Stadtzentrum ist weiträumig für Autos abgesperrt.

Mitglieder der Staatssicherheit in Zivil haben offenbar den Auftrag, sich unter Demonstranten zu mischen und für Unruhe zu sorgen. Am Morgen nahmen Ordner der Volksbewegung in einer kleinen Moschee nahe dem Platz eine junge, voll verschleierte Frau fest, die ein langes Messer bei sich hat. Zwei kräftige Typen zerrten mit den Worten „du hast hier nichts zu suchen“ einen schmalen Mann Richtung Ausgang. An allen Eingängen werden die Ausweise kontrolliert, denn bei Polizisten und Geheimpolizisten ist ihr Beruf im Personalausweis vermerkt. Am Mittag warnte sogar die Militärführung die Menge über die Lautsprecher des Tahrir, es seien falsche Soldaten in gestohlenen Uniformen unterwegs. Gleichzeitig versuchte Mubaraks Regierungspartei NDP offenbar, in verschiedenen Städten Gegendemonstrationen zusammenzutrommeln. Viele dächten so wie er, versichert der Taxifahrer, der als einer der wenigen noch wagt, sich offen als Mubarak-Unterstützer zu outen. Die Demonstranten seien von Baradei gekauft. Mubarak sei die Nummer eins, der viel für Ägypten geleistet habe. „Ich flehe zu Allah, dass die Leute wieder zur Vernunft kommen und sich hinter Mubarak stellen“, sagt er zum Schluss, bevor er das Fahrgeld zählt.

Und so ruhen alle Augen an diesem Tag auf der ägyptischen Armee. Dass sie sich so volksnah und friedlich gibt, geht wohl auch auf amerikanischen Druck zurück. Denn die Zeit der modernen F-16 Kampfjet und M1-Abrams-Panzer dürfte ein für allemal vorbei sein, sollte die Armee ihre teuren Kanonenrohre auf das eigene Volk richtet. Zwei Milliarden Dollar pumpt Washington jährlich in das Staatsbudget Ägyptens, der Löwenanteil geht für Waffen und Ausrüstung an die Armee. Nach Israel ist Ägypten weltweit der zweitgrößte Empfänger von regelmäßigen Hilfsgeldern aus Washington. Am Dienstag traf der Sondergesandte von Präsident Barack Obama und frühere US-Botschafter in Kairo, Frank Wisner, mit Mubarak zusammen, um „dessen Standpunkt zu erfahren“, wie es sybillinisch aus dem Weißen Haus hieß. Und jeden Abend um 20 Uhr trifft sich inzwischen ein General mit dem Komitee der Volksbewegung an dem beigen Panzer, der am Eingang der Talat Harb Straße steht, „um den nächsten Tag zu besprechen“. Mehrere Offiziere waren am Montagabend sogar auf dem Platz unterwegs, um die Demonstranten vor Provokateuren der Polizei zu warnen. „Seid so friedlich wie möglich. Wenn die anfangen zu schießen, müssen wir eingreifen, also kontrolliert die Leute ganz genau“, beschworen sie die jungen Helfer. „Sonst kommen wir alle in Teufels Küche.“

Eine von den Aktivisten ist Jasmin Saleh. Sie hat vom vielen Reden fast keine Stimme mehr, als sie heiser von den dramatischen Verhandlungen berichtet. „Die Armee hat uns verboten, zum Präsidentenpalast zu ziehen, dann könne sie für unsere Sicherheit nicht mehr garantieren“, sagt die 29-Jährige mit blauer Jeansmütze und rosa Pullover. Zehn Kilometer ist das Palastareal Mubaraks vom Tahrir-Platz entfernt. „Wenn du nicht gehst, dann kommen wir zu dir“, steht auf vielen Plakaten, die die Menschen mit sich tragen. Andere haben sich bereits in weiße Leichentücher gehüllt. Noch ist unklar, was geschieht, auch weil die Organisatoren der Proteste ein Blutbad befürchten. Sollte sich die empörte Millionenschar dennoch am Abend nach Heliopolis in Bewegung setzen, hätte Mubarak noch drei Stunden zur Flucht.

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