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In den Weiten des Internets kann man sich verlieren.

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Mediengesellschaft: Beherrscht uns das Internet?

Die Welt der neuen Medien verändert uns. Aber noch wissen wir nicht wie. Manfred Spitzer sieht in seinem Bestseller „Digitale Demenz“ unsere Kinder in Gefahr zu verdummen und zu vereinsamen. Andere glauben daran, dass die Bürger lernen werden, Technik auch auszuschalten.

Die Vorgebirgsstraße 1 in Bonn ist ein Ort der Stille. Man steigt über drei Stufen hinein in zwei Räume voller Nachdenklichkeit. Das Büro des Slow-Media-Instituts ist voll von Papierstapeln, bunt verteilt auf Holzregalen, vereint mit Büchern und Aktenordnern. Mittendrin sitzt Sabria David, 45, und arbeitet an einer Versöhnung.

In Deutschland tobt mal wieder eine heftige Debatte über die Gefahren, die auf uns lauern, wenn wir uns dem Internet und den vielen neuen Medien unterwerfen. Manche sehen unseren Geist absterben, prognostizieren Verdummung und Vereinsamung. Andere glauben, dass wir als soziale Wesen verstümmelt werden, Empathie und Menschlichkeit verlieren. Dagegen sucht Sabria David einen Weg zur Vermittlung. Sie und ihre Mitstreiter laufen zwischen den Linien, schreiben Essays, bloggen, forschen und beraten Unternehmen, dass sie sich nicht blind ins Online-Getümmel werfen. Sie machen auf ihre Weise mobil für eine bescheidenere Revolution: eine Revolution des Innehaltens, des Verstehens, der Mündigkeit.

Man kann auch einfach sagen, Sabria David hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der gesunde Menschenverstand siegt. Und nicht die Technik.

Aber wo findet man diesen neuen Geist? Der amerikanische Buchautor und Blogger Nicholas Carr, einer der populären Warner vor den Folgen des Internetzeitalters, hat Angst vor ihm. Er bemüht zur Abgrenzung die von Errungenschaften schwere Vergangenheit, den „Geist der Renaissance, den rationalen Geist der Aufklärung, den innovativen Geist der industriellen Revolution, den subversiven Geist der Moderne“. Bald schon, klagt Carr, könnten alle diese guten Geister von gestern sein. Wo Angst und Unsicherheit vor dem Morgen herrschen, ist Versöhnung schwer. Und so befindet sich die Gesellschaft – Eltern, die ihre Kinder schützen wollen, Jugendliche, die in den digitalen Welten zur neuen Freiheit surfen, Arbeiter und Angestellte, die ständig erreichbar sein müssen, Arbeitslose und Studierende, die sich weiterbilden wollen – in einer Zwischenwelt. Es ist neblig dort. Es ist eine Welt, in der es leicht ist, böse Geister zu sehen. Unfertigkeit ist ein Nährboden für Angst.

Der Direktor der psychiatrischen Klinik in Ulm, Manfred Spitzer, hat es mit Angstmachen bis an die Spitze der Buch-Bestsellerlisten geschafft. Seine Buch-These von der „Digitalen Demenz“, die uns droht, beruht auf der Annahme, dass uns die neuen Medien dumm machen und unsere Gehirne schrumpfen lassen. Aber das Buch ist nicht mehr als eine schwer lesbare Aneinanderreihung von Studien und Umfragen, von denen niemand weiß, wie seriös sie sind und die vor allem eines nicht untermauern: die These des Buchtitels.

Spitzer produziert noch mehr Nebel, aus dem heraus er laut sein Urteil ruft: „Das Internet ist voller scheiternder Sozialkontakte. Es wird gelogen, gemobbt, abgezockt, aggressive Stimmung gemacht, gehetzt und diffamiert … Wen wundert es, dass soziale Netzwerke bei den jungen Nutzern vor allem zu Einsamkeit und Depression führen?“

Die Gefahren des Internets sind real.

Die Gefahren des Internets sind real, und tatsächlich gibt es kaum eine interessantere Frage als die nach den sozialen Folgen für die Gesellschaft. „Wir müssen uns diesen Fragen stellen“, sagt Sabria David, „aber wir müssen es vorurteilsfrei und konstruktiv tun.“ Spitzer kann in seinem Buch keine einzige Studie zitieren, die generelle Vereinsamung oder unsoziales Verhalten nachweist.

Markus Feufel, 34, vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat alle wissenschaftlichen Datenbanken weltweit durchforstet. 30 Studien hat er gefunden, aber die meisten sind qualitativ nicht sehr anspruchsvoll, sie haben wenig Aussagekraft, weil ihre Datenmengen klein sind und sie nicht über einen längeren Zeitraum reichen. Erst seit 2008 hat die Forschung ernsthaft begonnen, sich intensiver mit dem Thema der kognitiven Folgen durch das Internet zu beschäftigen. Einige jüngere Studien können sogar kleinere positive Effekte nachweisen, bei der Aufmerksamkeit oder bei Gedächtnisprozessen.

Der Psychologe sagt: „Wir werden uns immer mehr bewusst, dass die Nutzung neuer Medien unser Verhalten ändert, aber bisher gibt es mehr Spekulationen als gute Studien, die tragfähige Aussagen über Langzeitfolgen zulassen. Man kann einfach noch nicht sagen, welchen Einfluss die intensive Beschäftigung mit den neuen Medien auf unser soziales Verhalten und kognitive Fähigkeiten haben wird und wohin die Reise geht.“ Fest stehe eben nur: Wir reisen.

Ein Experiment hat der amerikanische Hirnforscher und Psychiatrie-Professor Gary Small durchgeführt. Er untersuchte die Nervenbahnen von Internetexperten und Internetneulingen anhand von Lesetests zunächst am Computer. Die „Neulinge“ bauten in kürzester Zeit neue Nervenbahnen auf, die Experten besaßen bereits eine breiter angelegte Gehirntätigkeit, wenn sie online waren. Interessant wurde es, als die Probanden offline lesen sollten. Es kam nämlich heraus, dass sie keine großen abweichenden Hirntätigkeiten aufwiesen. Es gab keinen Beweis für „Verdummung“, nur dafür, dass sich das Gehirn überhaupt verändert. Das können Gehirnforscher nachweisen, aber sie können nichts über die soziale Qualität dieser Veränderung sagen. Unkonzentriertheit, Zerstreutheit, ja Geistlosigkeit können Folgen eines exzessiven Medienkonsums sein – müssen es aber nicht.

Auch für Spitzers These von der Vereinsamung durch digitale Medien findet sich wenig Belegbares. Der Wissenschaftsautor David Disalvo hat für das Wissenschaftsmagazin „Gehirn und Geist“ einige Ergebnisse aufgearbeitet. Sein Fazit: „Die Forscher fanden heraus, dass Personen mit umfangreichen Onlinekontakten nicht unter vermehrter Angst oder Depressionen litten – zwei typische Begleiterscheinungen der Einsamkeit.“

Aber noch haben wir die Technik nicht wirklich im Griff. Stattdessen erschöpft sie uns. Die vergangenen zehn Jahre, die immer schnellere, bessere, leichter bedienbare Geräte hervorbrachten, haben uns atemlos gemacht. Wir wollen auf alles Neue schnell reagieren, aber vergessen zu hinterfragen.

„FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher („Payback“) und die Publizistin Miriam Meckel („Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns“) haben beide auf ihre Weise veranschaulicht, was passieren kann, wenn allein Algorithmen uns den Weg weisen. Gerade erst hat die Öffentlichkeit bei der publik gewordenen Diffamierung von Bettina Wulff, der Frau des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, gelernt, was passiert, wenn Gerüchte auf die programmierten Algorithmen von Google und anderen Suchmaschinen treffen. Durch die Funktion der automatischen Vervollständigung bei Suchbegriffen tauchen bei Eingabe des Namens Bettina Wulff stets auch die Stichwörter „prostituierte“ oder „escort“ auf. Aber es sind nicht die Maschinen, die Gerüchte streuen, es sind die Menschen.

Nicht die Intelligenz geht den Menschen abhanden, sondern die Aufmerksamkeit.

Vielleicht hat Nicholas Carr recht, wenn er sagt: „Die Reizkakofonie des Internets schließt sowohl bewusstes als auch unbewusstes Denken kurz, so dass unser Geist weder konzentriert noch kreativ denken kann.“ Carr befürchtet, dass unser Gehirn zu einer simplen, signalverarbeitenden Einheit werde, die Informationen möglichst rasch durch unser Bewusstsein schleust. Und auch Schirrmacher macht sich vor allem Sorgen um unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und Intelligenz: „Damit Intelligenz entsteht und bemerkt wird, benötigen wir Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist es, die uns mehr und mehr abhanden kommt.“

An dieser Stelle würde Sabria David den Kritikern recht geben. Ihr und ihren Ko-Autoren Benedikt Köhler und Jörg Blumtritt, den Gründern des Slow-Media-Instituts, geht es ja um eine neue Aufmerksamkeit. Im Slow-Media-Manifest, das alle drei geschrieben haben, steht: „Slow Media lassen sich nicht nebenbei konsumieren, sondern provozieren die Konzentration der Nutzer, suchen ein Gegenüber, mit dem sie in Kontakt treten können.“ David und Co. wollen weg von der Jagd nach schnellerer Technologie, stattdessen, so schreiben sie, „wird es darum gehen, angemessene Reaktionen auf diese Medienrevolution zu entwickeln – sie politisch, kulturell und gesellschaftlich zu integrieren und konstruktiv zu nutzen“.

Slow Media ist nur ein winziger Baustein in einer sich neu aufbauenden Netzwelt. David steht fest an der Seite der technischen Errungenschaften und der Lebensweise in der Netzwerkgesellschaft. Sie will keinen Gegensatz aufbauen zur Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit von Twitter, Blogs und sozialen Netzwerken wie Facebook. Sie sagt: „Ich will eine neue Haltung und Art, sie zu nutzen.“ Die Literaturwissenschaftlerin und Linguistin, zweifache Mutter, hat Manfred Spitzer im Fernsehen gesehen, wie dessen Sohn in einer Talkshow sagte, er sei seinem Vater dankbar, dass er den Fernseher rausgeschmissen habe. Er sei gleich zwei Noten besser geworden. David fragt sich: „Warum hat der Vater nicht Regeln aufgestellt für den Fernsehkonsum? Für Spitzer gilt: Entweder wir unterwerfen uns der Technik – oder wir werfen die Technik raus. Den konstruktiven Umgang damit lernt so allerdings keiner, auch die Kinder nicht, die er ja so gerne schützen will.“

Sie ist überzeugt davon, dass die Menschen auch ihre nächste Lektion lernen werden: Die Technik auszuschalten!

In Teilen der Netzgemeinschaft ist diese Debatte nach einem neuen Tempo, nach Tiefe und Qualität schon vor Jahren entstanden, nur die breite analoge Öffentlichkeit hat sie nicht mitbekommen. Es gibt noch zu wenig Brücken zwischen den Welten. Der niederländische Medienwissenschaftler und Autor Geert Lovink schrieb 2007: „Das Internet wird bleiben, um es für uns zu nutzen, statt uns von ihm versklaven zu lassen, müssen wir seine Architektur verstehen – und ablehnen kann man nur, was man auch kennt.“

Lovink hat die Gabe, das vermeintlich Komplizierte simpel auszusprechen. Er schreibt: „Im Internet ist Orientierungslosigkeit keine Ausnahme, sondern die Regel.“ Der Subtext dazu lautet: Wenn man das weiß, warum sollte man sich davon ins Bockshorn jagen lassen? In diesem Sinne plädiert David dafür, nicht nach dem Guten oder Schlechten zu fahnden, sondern im Sinne von Lovink zu forschen, sich zu vernetzen, zu erinnern, um, wie Lovink schreibt, „die unerträgliche Leichtigkeit des Echtzeit-Lebens zu meistern“.

Alte Kulturtechniken leben in einer neuen, digitalen Umgebung neu auf.

Aus dem Alten, den kulturellen Errungenschaften, von denen Nicholas Carr schwärmt, baut sich Neues auf. Twitter, diese Echtzeit-Anwendung zur Verbreitung von telegrammartigen Nachrichten, ist für David beispielsweise eine ideale Möglichkeit, um soziale Nähe herzustellen. Sie findet, dass die alten Kulturtechniken wie das Salongespräch oder der Aphorismus, das poetische Sprechen, über Twitter neu aufleben.

David hat ihren Heinrich von Kleist gelesen, der über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden schrieb („L’idée vient en parlant“). Twittern komme dem nahe. Sie findet: „Das Internet als Schriftmedium funktioniert nach den Regeln der Mündlichkeit.“ Das fördere soziale Kontakte. Über Twitter sind sich die Gründer von Slow Media erstmals begegnet.

Die Möglichkeit des globalen In-Kontakt-Tretens ist die größte Chance des Internets. Es ist eine Ursuppe aus sozialen Utopien, aus der auch die Vision des gemeinsamen Lernens und die der selbstbestimmten Aufklärung, also der Mündigkeit, entstammt. Das Internet bietet Nischen, in denen kollektives Lernen jenseits akademischer Institutionen funktioniert. Aber Nischen werden eben auch nur von Minderheiten genutzt.

Die Psychologin Ulrike Cress vom Leibniz-Institut für Wissensmedien, die auch an der Uni Tübingen lehrt, hat untersucht, dass auf Wikipedia Informationen zusammengetragen werden wie Bodenschätze in einem Bergwerk. Anhand des Wikipedia-Eintrags „Fukushima“ hat sie zehn Tage nach der Katastrophe in Japan begonnen zu schauen, wie der Text entstand. Am Ende hatten rund 50 User den Eintrag erarbeitet. Die dazu von Cress befragten Atomexperten fanden, dass er sehr gut sei und dem Wissensstand entspreche. Was Cress erstaunte: Von den 50 Personen hatten nur wenige Fachwissen. „Aber aufgrund der Regeln bei Wikipedia ist es gelungen, in einer Weise zu kommunizieren, dass auch Leute, die wenig wissen, etwas beitragen konnten.“

Für Cress, die sich für die soziologischen Folgen der neuen Medien interessiert, ist Wikipedia in dieser Hinsicht ein Phänomen, was es noch nicht gab. Auf die Frage, was Menschen antreibt, auf Wikipedia Beiträge zu diskutieren und zu verfassen, sagt sie: „Es ist die Erfahrung, ich mache etwas Sinnvolles. Es ist eine Arbeit, die um Wahrheit bemüht ist. Anscheinend gibt es dieses Bedürfnis, Teil eines solchen Projektes zu sein.“

Vielleicht widersprechen sich die Beobachtungen der Kritiker und der Anhänger gar nicht. Sie vermuten nur unterschiedliche Konsequenzen.

Sherry Turkle hat in ihrem Buch „Alone together“ versucht, sehr anekdotisch aufzuzeigen, dass wir begonnen haben, uns aus sozialen Beziehungen zurückzuziehen und abzustumpfen. Die harmlosen Beispiele, die Turkle anführt, kann jeder nachvollziehen, der in einer vollen S-Bahn den Handy-Gesprächen seiner Mitfahrer lauschen durfte, die scheinbar hemmungslos über ihre Probleme redeten, ohne sich daran zu stören, dass sie dies öffentlich tun.

Die digitale Kommunikation bleibt oberflächlich. Soziale Kontakte kann sie nicht ersetzen.

Während wir jede Scham verlören, unser Privates öffentlich zu machen, verkümmerten unsere sozialen Kompetenzen, sagt Turkle. Die Angst vor Verletzung etwa in Beziehungen steigt, wir ziehen uns zurück in die Maschine; nur keine Gespräche von Angesicht zu Angesicht! Am Ende ihrer Reise zu Menschen, die sie zu Studienzwecken trifft, ist Turkle überrascht: „Ich begegne ständig Menschen, die gewillt sind, Roboter nicht nur als Haustiere, sondern als Freunde oder Intimpartner in Betracht zu ziehen.“ Sie folgert: „Die Idee vom sozialen Roboter deutet darauf hin, dass wir versuchen könnten, Nähe zu spüren, indem wir sie vermeiden. Wir erwarten von Technologien immer mehr und von unseren Mitmenschen immer weniger.“

Turkles Behauptung klingt nicht einmal falsch. Jeder sollte für sich eine Antwort darauf haben.

Sabria Davids Antwort setzt auf den Menschen, „der die neuen Kulturtechniken erlernen“ und soziale Gefahren minimieren werde. Ulrike Cress, die Psychologin vom Leibniz-Institut, sagt, die oberflächliche Kommunikation wie etwa über „Like- oder Dislike-Buttons“ bei Facebook werde die Leute bald langweilen. Sie glaubt, dass die Menschen eine „Sehnsucht haben nach Tiefe, auch in Beziehungen“. Geert Lovink schreibt in seinem Buch „Zero Comments“: „Es wäre viel gewonnen, wenn es ein größeres Bewusstsein für die Grenzen der neuen Medien gäbe. Aber wir sollten das Technische nicht abtrennen und es außerhalb der sozialen Interaktionen stellen.“

Am Ende bleibt der Mensch wohl ein Mensch, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Das wird er aushalten müssen.

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