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Medikamententests an DDR-Bürgern: Mit Risiken und Nachwirkungen

Die Medikamententests, die westliche Pharmakonzerne an Patienten der DDR ohne Einverständnis vollzogen haben, waren umfangreicher als gedacht. Die Charité kündigt Aufklärung an und sicherte nun schnell Akten, die sonst vernichtet worden wären.

Die Medikamententests, die westliche Firmen an Patienten der DDR vollzogen haben, waren umfangreicher als bisher gedacht. Wie der „Spiegel“ berichtet, wurden in den 80er Jahren offenbar im großen Stil medizinische Studien ohne Zustimmung der Teilnehmer durchgeführt.

Welche Vorwürfe werden erhoben?

In dem Bericht heißt es, dass in der DDR mindestens 50 000 Menschen als „Versuchspatienten“ für Arzneimitteltests westlicher Pharmafirmen gedient hätten. An ostdeutschen Kliniken habe es mehr als 600 Arzneimitteltests gegeben, meist im Auftrag von Medikamentenherstellern aus der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich. Sie hätten der Devisenbeschaffung des SED-Regimes gedient. Bei den Versuchen sei es auch zu Todesfällen gekommen. Zudem seien die Patienten „nur unzureichend“ aufgeklärt worden, ein schriftliches Einverständnis habe man nicht für erforderlich gehalten.

Um welche Medikamente geht es?

Bei den laut „Spiegel“ in der DDR getesteten Arzneimitteln handelt es sich überwiegend um bis heute gebräuchliche Präparate. So nennt das Blatt als Beispiel Tests mit Spirapril, einem blutdrucksenkenden und herzstärkenden Wirkstoff aus der verbreiteten Gruppe der ACE- Hemmer. Spirapril wurde offenbar bei Herzpatienten getestet. Nachdem ein Patient in einem Krankenhaus bei Magdeburg an Herzversagen gestorben sei, habe man den Test jedoch abgebrochen. Einen Beweis dafür, dass in diesem oder einem anderen Fall ein Testwirkstoff ursächlich an einem Todesfall beteiligt war, legt der „Spiegel“ nicht vor. Weitere Testmedikamente waren das Durchblutungsmittel Trental und das Blutdruckmittel Nimodipin, das die Durchblutung des Gehirns verbessern soll und bei Alkoholikern im Delirium an der Zentralklinik für Psychiatrie in Ost- Berlin getestet wurde. Als Mittel gegen Verwirrtheit, wie sie bei einem Delirium auftritt, ist Nimodipin noch immer in der Diskussion. Weiteres Beispiel ist der Einsatz des Hormons Erythropoetin, besser bekannt als Dopingmittel „Epo“, bei Frühgeborenen. Der „Spiegel“ stellt den Test als Skandal dar, der „der westdeutschen Bevölkerung wohl kaum zu vermitteln“ gewesen sei. Tatsächlich ist die Behandlung von blutarmen Frühgeborenen mit Epo bis heute nicht unüblich, weil das Mittel die Blutbildung anregt und das unreife Gehirn möglicherweise vor Schäden bewahren kann. Bislang gibt es keinen Hinweis, dass in der DDR vorzugsweise besonders riskante Mittel getestet wurden, die man West-Patienten nicht zumuten wollte.

Was sagen die Verantwortlichen heute?

Karl Max Einhäupl, der Vorstandsvorsitzende der Charité, sagt, dass das Universitätsklinikum die Aufklärung der damaligen Vorgänge „rückhaltlos unterstützen“ werde. „Wir werden eine Aufarbeitung nach wissenschaftlichen Maßstäben fördern, so dass eine faire Bewertung der Patienten wie der damals verantwortlichen Kollegen stattfinden kann“, sagte Einhäupl dem Tagesspiegel. Man habe zudem die Vernichtung alter Akten gestoppt, so dass diese von 1984 an nun zugänglich blieben.

Die damals beteiligten Pharmafirmen bestreiten, dass es von ihrer Seite Fehlverhalten gegeben hat. „Alle klinischen Prüfungen wurden und werden bei Bayer nach global einheitlichen Standards durchgeführt“, teilte der Pharmakonzern Bayer mit. „Sofern im Auftrag unseres Unternehmens klinische Studien in der ehemaligen DDR durchgeführt worden sind, gehen wir davon aus, dass dieses entsprechend der Deklaration von Helsinki sowie den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes der ehemaligen DDR erfolgte.“ Die 1964 verabschiedete Deklaration von Helsinki umreißt ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen.

Warum die Firmen in der DDR testen ließen

Warum haben Firmen in der DDR testen lassen?

Noch heute werben Clinical Research Organizations (CRO) damit, dass Studien in Ländern wie Indien kostengünstiger und schneller durchgeführt werden können. Ähnliches versprachen sich die Pharmaunternehmen wohl auch von Tests in der DDR. Doch selbst wenn die gesetzlichen Regeln für den Ablauf von Studien anderswo teilweise laxer sein sollten, gelten grundsätzlich die Selbstverpflichtungen der Ärzteschaft für die medizinische Forschung . Seit den 80er Jahren wurden die einschlägigen gesetzlichen Grundlagen allerdings mehrfach verschärft.

Wie laufen Medikamentenstudien ab?

Der Weg von der Entwicklung eines neuen Wirkstoffs bis zu seiner Zulassung als Arzneimittel verläuft in mehreren Etappen. In der Debatte um Studien westlicher Pharmafirmen in der DDR geht es derzeit ausschließlich um die letzte, die Mediziner als Phase 3 bezeichnen: Das Mittel ist dann schon im Labor, eventuell im Tierversuch und an einer kleineren Gruppe von Probanden untersucht worden. Es wird nun in Unikliniken, in Krankenhäusern oder auch in Arztpraxen an einer größeren Zahl von Erkrankten auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Heute müssen in Deutschland zuvor Ethikkommissionen ihre Zustimmung erteilen. Gibt es schon ein wirksames Präparat für das Krankheitsbild, so wird es dabei mit diesem verglichen, im anderen Fall kommen Scheinpräparate zum Einsatz. Als die qualitativ besten Studien gelten solche mit einer hohen Teilnehmerzahl, in denen weder Arzt noch Patient wissen, wer den Wirkstoff bekommt.

Welche Risiken gibt es?

Die größten Risiken sollten zu diesem Zeitpunkt durch die frühen Studien schon ausgeschlossen sein. Sind sie „verblindet“, so muss es Notfall-Couverts geben, die die beteiligten Ärzte öffnen können, falls es schwere Nebenwirkungen oder gar Todesfälle geben sollte.

Was müssen die Patienten wissen?

Sie müssen sorgfältig aufgeklärt werden und danach ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme geben. Da jede Behandlung im juristischen Sinn den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, gilt die Aufklärungspflicht des Arztes und die Notwendigkeit der Zustimmung des Kranken oder seiner gesetzlichen Vertreter selbstverständlich auch außerhalb von Studien. Dass Aufklärung auch in den 80er Jahren schon als wichtig erachtet wurde, belegt ein BGH-Urteil von 1984, wo es heißt, der Patient sei im Gespräch mit dem Arzt „auch über seine nicht ganz außer Wahrscheinlichkeit liegenden Risiken zu unterrichten“.

Was passiert nun mit den Opfern?

„Vergehen, wie sie hier berichtet werden, verlangen eigentlich nach strafrechtlicher Aufarbeitung“, sagte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU) der „Mitteldeutschen Zeitung“. Nach heutigen Standards seien diese Handlungen kriminell, sagte Bergner. Offen sei aber, wie weit sie nach so langer Zeit geahndet werden könnten.Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete in seiner neuen Ausgabe von mindestens 50.000 Menschen, die mitunter ohne ihr Wissen an Arzneimittelversuchen teilnahmen. Dabei sollen Menschen auch gestorben sein. Das Magazin beruft sich auf bislang nicht bekannte Akten der Stasi und von DDR-Einrichtungen. Bereits Ende 2012 war bekanntgeworden, dass westdeutsche Pharmafirmen neue Arzneimittel auch an DDR-Patienten erprobt haben sollen. Bergner sagte weiter, es wäre ein schwerer Skandal, wenn Tausende DDR-Bürger vermutlich sogar unter Verletzung von Rechtsvorschriften der DDR zu billigen und wohlfeilen Versuchskaninchen gemacht worden wären. Die Unternehmen der Branche sollten sich ihrer Verantwortung stellen und die ärztlichen Standesorganisationen die Bemühungen um Aufklärung unterstützen. Entschädigung müsse vor allem durch die Profiteure der Aktionen erfolgen.Besonders erschütternd seien die Hinweise auf die offenbar konspirativen Verhandlungen zwischen DDR-Funktionären und Konzernmanagern, sagte Bergner. Dies klinge sehr nach vorsätzlicher Missachtung medizinethischer Grundsätze unter Umgehung von Kontrollbehörden. Hier wären beide Seiten zu beschuldigen.

Schwieriger sei die Lage der Mediziner zu bewerten. Sie hätten in einer Mangelsituation in kritischen Fällen verzweifelt nach Wegen gesucht, für die eigenen Patienten wirksame Medikamente zu erhalten. Der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz (CDU), sagteder „Mitteldeutschen Zeitung“, die westlichen Arzneimittelfirmen müssten sich zu dem „außerordentlich schwerwiegenden Verdacht“ äußern. Wenn es zu körperlichen Schäden bis hin zur Todesfolge gekommen sei, stelle sich die Frage nach Schadenersatz und AusgleichszahlungenDer Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, erklärte, die Pharmatests zeigten, dass dieAufklärung der DDR-Vergangenheit eine gesamtdeutsche Aufgabe sein müsse. (mit epd)

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