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Ein Operateur arbeitet mit chirurgischen Instrumenten an einem Patienten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Medizinprodukte in der EU: AOK-Chef sorgt sich um Patientensicherheit

Für Herzschrittmacher und Hüftprothesen ist in der EU-Kommission künftig die Industriekommissarin zuständig. Sie werden behandelt wie Haushaltsgeräte. Das kann zulasten der Patienten gehen.

Es ist ein Signal, und nicht gerade eins für mehr Patientensicherheit. In der EU-Kommission wurde die Zulassung von Medizinprodukten nun doch nicht dem Gesundheitskommissar, sondern still und leise dem Ressort für Unternehmen und Industrie unterstellt. Bei Deutschlands größter Krankenkasse, der AOK, stieß diese jetzt erst bekannt gewordene Entscheidung von EU-Kommissionspräsident Jean- Claude Juncker auf heftige Kritik. „Noch ist Zeit, diese Fehlentscheidung rückgängig zu machen“, sagte der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann, dem Tagesspiegel. Auf keinen Fall dürfe die Patientensicherheit „ökonomischen Interessen geopfert werden“.

"Keine gewöhnliche Industrieware"

Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ließ nur mitteilen, dass er Junckers Entscheidung respektiere. Graalmann dagegen findet klare Worte. Ob Wirtschafts- oder Patienteninteressen im Vordergrund stehen sollten, müsse doch „einfach zu beantworten sein“, sagt er. Und dass man hochsensible Medizinprodukte nicht wie gewöhnliche Industrieware nur nach ihrer Funktionsfähigkeit bewerten dürfe. „Es kann nicht sein, dass für die Zulassung von Hüftprothesen, Herzschrittmachern oder Brustimplantaten ein CE-Zeichen ausreichen soll. Das reicht vielleicht für Toaster und Kinderspielzeug, aber doch nicht bei Hochrisikomedizinprodukten.“

Es müsse „Schluss sein mit dem laschen Schutz in Europa.“ Und man müsse aus Fehlern lernen. Nach den Contergan-Fällen der 60er Jahre seien Gesetze verschärft und ein strenges Verfahren zur Prüfung, Zulassung und Erfassung neuer Arznei eingeführt worden. Nach dem Skandal um ausgelaufene Brustimplantate von 2012 sei „viel zu wenig passiert“. Das, so Graalmann, dürfe „nicht so bleiben“.

Zentrale Zulassung verlangt

So müssten Haftpflichtversicherung und Studien zu Wirksamkeit und Nutzen der Produkte für Hersteller verpflichtend werden. Zudem wäre aus Graalmanns Sicht eine zentrale Zulassung sinnvoll. Stattdessen seien zur Überprüfung jetzt nur 70 offiziell benannte Firmen zuständig, die von den Herstellern frei ausgewählt und auch bezahlt werden. „Da liegt es nahe, dass wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen und der Patientenschutz auf der Strecke bleibt.“

Selbst in Junckers EVP-Fraktion reagierten Experten erbost. Die Zuordnung sei falsch und „sachlich nicht zu begründen“, sagte ihr gesundheitspolitischer Sprecher, Peter Liese, dieser Zeitung. „Wenn ich rechtzeitig davon erfahren hätte, hätte ich sofort interveniert.“ In allen Nationen, selbst in den USA, seien Medizinprodukte im Gesundheitsressort angesiedelt. Und Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis als Herzchirurg und früherer Gesundheitsminister Litauens wäre für die sensible Thematik der richtige Mann gewesen. Die neue Industriekommissarin und frühere polnische Vize-Ministerpräsidentin Elzbieta Bienkowska dagegen habe „mit Medizin nie was am Hut gehabt“.

Zu früh gefreut

Offenbar hatten sich Junckers Kritiker zu früh gefreut. Erst vor drei Wochen hatte der Präsident auf heftigen Druck hin eingelenkt und seine Ankündigung zurückgenommen, Arzneimittel und Medizinprodukte vom Gesundheitsressort in die Abteilung der Industriekommissarin zu schieben. Seine Erkenntnis, dass es sich dabei um „keine Produkte wie alle anderen“ handle, feierten die EU-Parlamentarier als großen Erfolg. So hatte der EU-Gesundheitsausschuss in drei Beschlüssen insistiert, die Kompetenz dem Gesundheitskommissar zu lassen.

Bei der Arznei soll das so bleiben. Bei Medizinprodukten jedoch – zu denen auch Hochrisikogerätschaften wie Herzklappen, Hirnschrittmacher, Stents und Hüftimplantate gehören – machte der Kommissionschef wieder einen Rückzieher. Schließlich hatte er der Industriekommissarin mit dem Ziel, auch starke Frauen auf wichtige Positionen zu hieven, besonders viele Zuständigkeiten versprochen. Mit dem Bereich „Weltraum“, den er ihr noch aus dem Verkehrsressort zugeschanzt hatte, war es aus seiner Sicht wohl nicht getan. Und auch die Lobby der Medizinproduktehersteller dürfte nicht untätig geblieben sein.

Deutschland auf der Bremse

Tatsächlich handelt es sich bei Medizinprodukten um einen Riesenmarkt mit mehr als 5000 zertifizierten Innovationen pro Jahr – bei Arzneimitteln ist die Zahl der Zulassungen zweistellig. Seit mehr als zwei Jahren ringen die Politiker um bessere Sicherheitsstandards. Ergebnislos – auch weil, wie der CDU-Politiker Liese sagt, „Deutschland bisher auf der Bremse stand“. Der Vorschlag etwa, Hochrisikoprodukte nur noch zentral über die Europäische Arzneimittelagentur zuzulassen, wurde wieder kassiert, ein Kompromiss sieht nur noch Eingriffsmöglichkeiten einer Expertengruppe beim „Verdacht von Fehlentwicklungen“ vor.

Lob immerhin hat Graalmann für Gröhe parat. Das Vorhaben des Gesundheitsministers, Hochrisikoprodukte durch den Gemeinsamen Bundesausschuss systematisch und fristgebunden bewerten zu lassen, sei eine längst überfällige Verbraucherschutzmaßnahme. Damit gehe die Regierung „wenigstens einen ersten nationalen Schritt“.

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