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Plötzlich war wahr, was niemand für möglich gehalten hatte: Die Mauer war offen. Archivbild vom 9.11.1989.

© dpa

Meine Nacht auf den 9. November 1989: Ich erinnere mich

Ich war als Korrespondentin gerade erst neu in Berlin, als Schabowskis Sätze hörte - und in Panik geriet. Eine Kolumne.

Es gibt drei Erinnerungen, bei denen ich – ein fast Pawlow’scher Reflex – weinen muss: die Geburt meiner Kinder, die Liebeserklärung von Hugh Grant in „Notting Hill“, als er Julia Roberts bittet, ihm noch einmal eine Chance zu geben, und die Nacht des 9. Novembers 1989, als die Ostdeutschen plötzlich auf die andere Seite der Mauer strömten, mit dem etwas verstörten Blick von Rehen im Scheinwerferlicht.

Natürlich könnte ich jetzt meine eigenen Gedanken den seit Wochen nicht abreißenden Analysen hinzufügen. Ich könnte versuchen zu erklären, warum im Osten ein Viertel der Bürger, die zur Wahl gehen, einer rechtsextremen Partei ihre Stimme geben. Könnte sie als undankbar bezeichnen. Oder mildernde Umstände ins Feld führen: Der Übergang vom einem zum anderen System war zu brutal … doch: HALT!

Wie Sie alle will ich mich heute lieber an die Nacht erinnern, in der die ganze Welt den Atem anhielt. Ich war gerade erst nach Deutschland gekommen und wohnte für ein paar Wochen am Rande des Alexanderplatzes im Palast Hotel, diesem riesigen Dampfer mit getönten Scheiben, wo die internationalen Journalisten untergebracht waren. An die Pressekonferenz mit Günter Schabowski erinnere ich mich nur verschwommen: ein Stück Papier mit einer Anweisung, deren Sinn nicht einmal er selbst zu verstehen schien.

Die Druckereien streikten - war ich erleichtert!

Ich erinnere mich, dass ich Bauchschmerzen hatte, als ich ins Hotel zurückging. Was sollte ich schreiben? Dass die Mauer wirklich fallen würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gewagt vorherzusagen. Ich erinnere mich an die ruhige Stimme des Chefs vom Dienst, den ich anrief, und an die Totenstille, die mit einem Mal im Redaktionssaal in Paris herrschte. An meine Panik: „Es ist mir völlig unklar, was jetzt offiziell gültig ist, und was wir bringen können!“ Und an sein: „Immer mit der Ruhe, die Druckereien streiken gerade. Morgen gibt es sowieso keine Zeitung!“ An meine Erleichterung. Die Gewerkschaften gaben mir eine Galgenfrist.

Ich erinnere mich, wie ich am Checkpoint Charlie gemeinsam mit Tausenden Ostberlinern wartete. Und dann setzte sich die Menschenmenge plötzlich ganz langsam in Bewegung. Unsere Schreie. Unsere Tränen. Eine völlig Unbekannte fiel mir um den Hals, wir umarmten uns fest. Das konnte nicht wahr sein! Und die Menge überquerte die Grenze, vorbei an den Kontrollposten, den Grenzsoldaten, den Hunden.

Ich erinnere mich an Karl-Heinz und Sabine, ein junges Paar, mit dem ich die ganze Nacht den Ku’damm hoch und runter spazierte. Es war die einzige Adresse, die sie im Westen kannten. Ihr größte Sorge war: Werden wir wieder zurückkönnen? Ihre Kinder waren bei der Großmutter in Pankow geblieben. Die beiden hielten sich an der Hand wie Hänsel und Gretel im finsteren Wald.

Was für ein unglaubliches Glück

Ich erinnere mich an das Entsetzen meiner Freunde im Prenzlauer Berg, als sie ihre Landsleute mit Plastiktüten in der Hand zurückkommen sahen: „Jetzt ist alles vorbei.“

Ich erinnere mich an die Verblüffung. Das Ereignis war zu groß, zu brutal für eine gelassene Freude.

Ich erinnere mich, dass ich mich sehr klein gefühlt habe inmitten der Menschenmassen und mehrmals gedacht habe: Was für ein unglaubliches Glück, heute Nacht hier zu sein. Und ich denke es noch immer: was für ein unglaubliches Glück.
- Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.

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