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Menschenrechtsgerichtshof: Im Namen der Völker

Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof wird 50 – er ist stärker denn je und so überlastet wie noch nie.

Berlin - Wer jemandem wie Othman Omar Mahmud alias „Abu Katada“ zur Hilfe eilt, einer mutmaßlichen Zentralfigur der Al Qaida, dem Hohepriester des Hasses, wie die Medien ihn nennen, der muss wahnsinnig sein oder selbst ein Terrorist. Oder, dies wäre die dritte Variante, er ist ein Verfechter von Grund- und Menschenrechtsstandards, ein ziemlich prinzipienfester, ein unabhängiger, starker. So kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Freitag Abu Katada zur Hilfe und verbot es den britischen Behörden vorläufig, den Inhaftierten an Jordanien auszuliefern – weil ihm dort Folter drohen könnte.

Vor einem halben Jahrhundert sind die Richter erstmals zusammengetreten. Heute hat sich der Gerichtshof eine einzigartige Position erobert. Er bietet 800 Millionen Bürgern aus den Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die Chance, in Straßburg ihre fundamentalen Rechte einzuklagen, wenn die Nationen sie ihnen nicht gewähren wollen. Keines der Länder kann es sich mittlerweile leisten, die Urteile zu ignorieren, wie es etwa die Türkei früher gern tat.

Die Erfolgsgeschichte war ungeplant und verdankt sich dem tiefmoralischen Bewusstseinsschub, der die Menschenrechte nach dem Schock von Krieg und Holocaust weltweit ganz oben auf die politische Agenda setzte. Der Entschluss des Europarats, einen Gerichtshof einzusetzen, der die 1953 in Kraft getreten EMRK justiziabel machte, hatte gravierende Folgen für die Souveränität der Nationalstaaten. Nicht sie und ihre Gerichte, sondern Straßburg wird zur letzten Instanz. Bis heute hadern manche mit ihrer Tatkraft von damals. Mitunter verweisen die Fälle auf Missstände in Polizei, Justiz und Strafvollzug, die tiefer liegen und mit einmaligem Schadensersatz nicht behoben sind. Auch lassen sich einige Staaten ungern sagen, wie sie mit Minderheiten in ihrem Land umzugehen haben.

Gleichwohl gelang es, die EMRK mit Zusatzprotokollen stärker und besser handhabbar zu machen. Sie und ihr Gerichtshof gehören heute zur europäischen Identität, obschon sie mit der Union formal wenig gemein haben. So wuchs die Zahl der Unterzeichner und hat sich seit dem Fall des eisernen Vorhangs auf 47 verdoppelt.

Weil der Grund- und Menschenrechtsschutz in vielen Beitrittsländern mangelhaft ist, schwoll die Verfahrenszahl an. Zugleich rückte das Gericht auch im Westen stärker in die Öffentlichkeit. Wer heute vor dem Bundesverfassungsgericht unterliegt, wie letzte Woche der streitbare Theologe Gerd Lüdemann, der gegen den Willen seiner Kirche Religionslehrer heranbilden wollte, wird sogleich gefragt, ob er denn nun nach Straßburg ziehe. Lüdemann verzichtete. Doch aktuell sind über 100 000 Verfahren anhängig, mehr als 1500 Urteile sprechen die Richter pro Jahr.

Grund zur Klage bieten hin und wieder die Deutschen, wenn auch gemessen an der Einwohnerzahl in bescheidenem Maß. Manchmal verstellen Gewohnheiten und Vorurteile den Blick auf das verletzte Menschenrecht. Bekanntester Fall war der von Kazim Görgülü, eines in Deutschland lebenden Türken, der sich das Sorgerecht für seinen unehelichen Sohn erstreiten musste, den die Mutter zur Adoption freigegeben hatte. Auch änderte der EGMR die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Persönlichkeitsrechten Prominenter, wovon vergangene Woche die TV- Größe Sabine Christiansen und ihr Mann Norbert Medus profitierten, die ein Paparazzo verbotenerweise beim Stadtspaziergang durch Paris abgelichtet hatte.

Deshalb wirbt auch die deutsche Richterin, Renate Jaeger, den Gerichtshof besser auszustatten. Ohne eine gründliche Reform und mehr Mittel geht es nicht weiter, sagt sie und spricht aus, was jeder im Europarat weiß. 50 Jahre wären ein guter Anlass. Ausgerechnet das oft verurteilte Russland sperrt sich dagegen, den Richtern die Arbeit zu erleichtern. Manchem ist Stillstand ganz recht.

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