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Politik: Menschenschmuggel: In der Heimat der Toten von Dover

Man könnte die Geschichte über den chinesischen Menschenschmuggel schnell auf den Punkt bringen. Ding Wenyang wäre dann ein passendes Beispiel.

Man könnte die Geschichte über den chinesischen Menschenschmuggel schnell auf den Punkt bringen. Ding Wenyang wäre dann ein passendes Beispiel. Wie so viele in Fujian, der palmenbewachsenen Küstenprovinz im Süden von China, hält den 25-Jährigen nur noch wenig in seiner Heimat. "Es gibt keine guten Jobs hier, keine Chancen", sagt er. Ding hat nicht viel: Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, raucht billige Zigaretten und träumt von einem Auto. Sobald er genug Geld für die heimliche Überfahrt hat, erzählt er mit strahlenden Augen, will er weg. Nach "Mei Guo" - "Amerika" zieht es ihn, nach Japan, zur Not auch nach Europa. So denken alle jungen Männer hier.

Auf den ersten Blick scheint Dings Geschichte eine Antwort zu sein. Vor zehn Tagen sind in Dover 58 Chinesen, mehrere aus der Provinz Fujian, in einem Lastwagen gestorben. Qualvoll erstickt beim Versuch, heimlich über die Grenze nach England einzureisen. Sie hatten den gleichen Traum wie so viele. Mehr als hunderttausend Chinesen verlassen jedes Jahr ihr Land, um in den Westen zu gelangen. Wer die Flucht überlebt, hat oft ein hartes Schicksal vor sich. Als Illegale müssen die Einwanderer zu Niedrigstlöhnen in den Küchen der China-Restaurants schuften. Die Frauen enden oft als Animiermädchen im Rotlichtbezirk. Muss jemand nicht wirklich verzweifelt sein, bevor er so einen Schritt tut? Muss nicht das Leben bedroht sein, ehe jemand seine Heimat unter solchen Bedingungen verlässt? Der bitterarme Flüchtling - so heißt die schnelle, einfache Antwort.

Es lohnt sich aber, Ding Wenyang etwas länger zu Wort kommen zu lassen, ihn in seinem Heim am Rande der Stadt Jinfeng zu besuchen. Aus dieser Region waren vor drei Monaten mehrere der in Dover gestorbenen Chinesen aufgebrochen. Sie hätten Dings Nachbarn sein können. Er selbst hätte einer von ihnen sein können.

Nicht nur Schlepper profitieren

Im Schatten des einfachen, zweistöckigen Betonhauses seiner Familie hat Ding zwei weiße Plastikstühle zusammengerückt und Tee aufgekocht. Im Hintergrund läuft ein alter Farbfernseher. Vor zwei Jahren hat Ding seinen Beruf als Schreiner aufgegeben, seitdem macht er Lieferfahrten mit dem Motorrad. 600 Yuan - umgerechnet 150 Mark - verdient er im Monat. Geht es ihm damit nicht ganz gut? Warum will er unbedingt weg? "Natürlich verhungere ich hier nicht", sagt Ding. Aber er habe eben auch Träume. "In Deutschland hat jeder ein eigenes Auto, oder? Das will ich auch."

Nirgendwo in China verlassen so viele Menschen ihre Heimat wie in Fujian - Schätzungen zufolge sind es jedes Jahr mehrere Zehntausend. Doch nach chinesischen Maßstäben ist Fujian alles andere als arm, die Provinz gehört zu den wirtschaftlich erfolgreichsten. In der Provinzhauptstadt Fuzhou zeugen Wolkenkratzer und amerikanische Fastfood-Ketten vom Wohlstand. Im Gegensatz zum Nordosten Chinas, wo Arbeitslose am Straßenrand die Zeit totschlagen, herrscht in Fuzhou der geschäftige Geist Südchinas: Männer in Anzügen und Frauen mit Mobiltelefonen am Ohr hetzen durch die Stadt. Man will reich werden. In 20 Jahren, so die ehrgeizige Ankündigung der Provinzregierung, soll der Lebensstandard so hoch wie im nahen Taiwan sein.

Warum zieht es dann so viele Leute weg? Fujian hat eine Tradition als Auswanderungsland. Im 17. Jahrhundert segelten von hier die ersten Chinesen als Vertragsarbeiter in die portugiesischen Kolonien. Später halfen Hunderttausende "Kulis", den neuen Kontinent Amerika zu erschließen. Die blanke Not vertrieb diese erste Welle der Auswanderer aus China.

Heute sind es andere Gründe. "In England kann man 1000 Pfund in einem Monat machen", erzählt Ding. "So viel verdienen wir im ganzen Jahr nicht." Und deshalb habe er sich an einen "She Tou" gewendet - einen "Schlangenkopf" von der Schleusermafia. Irgendwann im nächsten Jahr soll es losgehen. Die Preise für die Flucht kennt jedes Kind: 500 000 Yuan - umgerechnet 120 000 Mark - kostet die mehrwöchige Odyssee in die USA. Lange Zeit hieß die US-Green Card unter Chinesen "Liu si ka" ("4.-Juni-Karte") - nach dem Tiananmen-Massaker von 1989.

Für die Schlepper ist der Menschenschmuggel eine unerschöpfliche Geldquelle. Ganze Sippschaften und Dörfer legen zusammen, um einen Mann in den Westen zu schicken. "Der Grund dafür, dass so viele von hier das Land verlassen, ist, dass sie hier Geld haben", sagt Ding. In der Inneren Mongolei oder Sichuan seien die Menschen zu arm. An dem Geschäft verdienen alle mit. Weil die Auswanderer Devisen ins Land bringen, lässt die Polizei die Schlangenköpfe meist gewähren. Rund eine Milliarde Mark fließen auf diesem Weg jedes Jahr zurück nach Fujian. In Jinfeng reihen sich die Geschäfte mit Markenkleidung, Supermarktketten und Elektronikläden aneinander. "Wir leben praktisch vom Geld der Gastarbeiter", sagt eine Verkäuferin.

Klimaanlagen und Autos - vielleicht sind es ja wirklich so banale Gründe, die die 58 Chinesen nach England gelockt haben. "Wir wollen ja nichts geschenkt haben", sagt Ding. Natürlich hat er von Dover gehört. Natürlich weiß er, dass viele Auswanderer als billige Arbeitskräfte verheizt werden. Aber es interessiert ihn nicht. "Ich will nur eine Chance, die ich hier nicht bekomme", sagt Ding. Ist diese Chance es wert, sein Leben zu riskieren? Für sich selbst hat er die Frage klar beantwortet: "Ja".

Harald Maass

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