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Angela Merkel bei der Abstimmung zum Fiskalpakt und ESM im Bundestag.

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Update

Merkel nach dem EU-Gipfel: Erst krachend verloren, dann ein bisschen gewonnen

Kanzlerin Merkel hat nachgegeben: Am Ende des EU-Mammutgipfels standen eine große Niederlage und nur ein kleiner Sieg. In Bundestag und Bundesrat setzte sie sich dann trotzdem durch. Doch das letzte Wort wird nun in Karlsruhe gesprochen: Die angekündigten Klagen gegen die Euro-Rettung wurden eingereicht.

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Wenn sich sogar Carsten Schneider um die Kanzlerin zu sorgen scheint, dann ist die Lage ernst. Schneider ist oberster Haushaltsexperte der SPD, ein junger Mann, der mit der Zeit geht und sich auf Twitter tummelt. Am Freitagmorgen hat der Sozialdemokrat die nächtlichen Beschlüsse des Brüsseler EU-Gipfels auf den Tisch bekommen. Schneider greift zum iPhone. „Was ist mit #Merkel passiert?“, funkt er in die Kurznachrichtenwelt hinaus. Dann beantragt er eine Sondersitzung des Haushaltsausschusses. In ein paar Stunden sollen Bundestag und Bundesrat die nächsten großen Schritte in der schier unendlichen Geschichte der Euro-Rettung absegnen. Später wird das Bundesverfassungsgericht das allerletzte Wort sprechen, wie angekündigt wurden Klagen eingereicht. Erst einmal aber geht es um die Kanzlerin. Nach dem, was in der Nacht zuvor mit Angela Merkel passiert ist, sind die historischen Beschlüsse von heute schon Schnee von gestern.

Was nämlich mit Merkel passiert ist, lässt sich kurz so zusammenfassen: Als Eiserne Kanzlerin ist sie ins Gefecht gezogen – mit Rissen in der Rüstung kehrt sie zurück. Zum ersten Mal seit langem ist das Schema durchbrochen, dass die deutsche Regierungschefin als scheinbar vereinsamte Kämpferin gen Brüssel ging und als strahlende Siegerin zurückflog. Das Schema war immer schon ziemlich grob. Aber es fügte sich prima in die Erzählung von der schwäbischen Hausfrau im Kanzleramt, die die leichtlebigen Südländer deutsche Disziplin und Sparsamkeit lehrt. In allen Wendungen und Kompromissen hat sie diese Linie stets gehalten. Vorige Woche in der FDP-Fraktion hat sie sie zur Lebenslinie erklärt: Keine Eurobonds, „solange ich lebe“. Das war flapsig, auch ein bisschen trickreich, aber in einem tieferen Sinne exakt richtig: Mit dieser Linie hält sie ihre Abgeordneten beisammen und die Bürger bei sich.

Video: Merkel zeigt sich zufrieden mit den Brüsseler Beschlüssen

Am Freitagfrüh steht Merkel vor Brüsseler Mikrofonen und sagt knappe, trotzige Sätze. Was da in der Nacht beschlossen worden sei, entspreche „vollkommen unserem Schema“ und bleibe „unserer Philosophie – keine Leistung ohne Gegenleistung – treu“. Mathematisch ist das richtig. Polit-mathematisch ist es falsch. Die leichtlebigen Südländer haben sich der ganz strengen Disziplin entwunden.

Um den Vorgang zu verstehen, muss man sich kurz mit den Euro-Rettungsschirmen befassen. Bisher funktionierten die nach dem Griechenland-Prinzip: Wer Kredite und Garantien aus den Euro-Töpfen brauchte, bekam die Herren mit den dunklen Anzügen ins Haus geschickt. Die Troika der Experten von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) schaute sich die Zahlen an und schrieb auf, was die Regierung gefälligst zu tun habe, damit es irgendwann vielleicht besser werde. Und wer sich weigert, kriegt kein Geld.

Wie Monti mit Merkel Klartexte redete beim EU-Gipfel

Aus Madame "No" wurde über Nacht Madame "Okay". Nun hat das Parlament Klärungsbedarf.
Aus Madame "No" wurde über Nacht Madame "Okay". Nun hat das Parlament Klärungsbedarf.

© dapd

Dass die schwarzen Anzüge in den betroffenen Ländern nicht auch als Retter, sondern nur als Peiniger betrachtet werden, ist so unfair wie verständlich. Dass Mario Monti einen Besuch der Troika in Rom scheut wie der Vatikan eine Visite des Teufels, ist noch viel verständlicher. Der Wirtschaftsprofessor und Ex-EU- Kommissar regiert Italien übergangsweise, seit Silvio Berlusconi zurücktreten musste. Berlusconi langweilt sich seither mutmaßlich ein wenig. Im nächsten Jahr wird auch in Italien gewählt. Monti weiß, dass er vielleicht bald auf europäische Solidarität angewiesen sein wird. Er will keinesfalls schwarze Anzüge als Mitregenten im Palazzo Chigi sitzen haben.

So also ist die Ausgangslage, als Herman Van Rompuy im großen Saal im sechsten Stock des EU-Ratsgebäudes in Brüssel von seinem Platz am Kopfende des riesigen runden Konferenztischs aufsteht. Es ist früh am Abend, die Staats- und Regierungschefs haben sich im Grunde auf ein 120 Milliarden Euro schweres Wachstumspaket verständigt, und Van Rompuy will den ersten Erfolg verkünden. Doch er darf nicht. Denn da beginnt das, was Diplomaten später abwechselnd in die Worte „Erpressung“ und „Monti-Show“ kleiden. Der Römer sagt Veto: Kein Beschluss zum Wachstumspakt, bevor seine Anliegen nicht erfüllt sind. Der Spanier Mariano Rajoy schließt sich an.

Auf den ersten Blick ist das unlogisch – wer, neben dem neuen französischen Präsidenten Francois Hollande, hatte denn auf diese Wachstumsimpulse gedrungen, wenn nicht die Südländer? Auf den zweiten Blick ist es logisch. In Rom und Madrid lesen sie auch Zeitung. Monti und Rajoy wissen, was die deutsche Kanzlerin daheim mit ihrer Opposition als Bedingung dafür vereinbart hatte, dass die ihre Hand für Fiskalpakt und Euro-Rettungsschirm ESM heben. Ohne Wachstumspaket braucht sie gar nicht erst nach Berlin zurückzufliegen.

Also muss sie verhandeln. „Merkel ist in der Runde sehr direkt angegangen worden“, berichten Diplomaten. Monti redet Klartext – er ist schwer verärgert darüber, dass er spart und reformiert, die Finanzmärkte ihn aber trotzdem jagen. Hollande trifft sich alleine mit Monti, Merkel auch, sie zählt die Vier-Augen-Runden gar nicht mehr, „mindestens zehn Mal“ habe sie mit dem Italiener gesprochen.

Im Grunde kann sie von dessen Härte nicht überrascht sein. Auch im Kanzleramt können sie lesen, welch horrende Höhe die Zinsen auf Italiens Staatsanleihen erklimmen. Die Deutschen waren vorgewarnt, im Gepäck lag ein Plan B. „Was am Ende verabschiedet wurde“, sagt später ein EU-Diplomat auf die Frage nach einer Merkelschen Kehrtwende, „war die fertig vorbereitete deutsche Rückfallposition.“ Das Problem ist nur: Eine Rückfallposition ist kein Sieg. Sie bietet nur notdürftig Deckung, wenn der Druck der Angreifer zu groß wird.

Video: CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach kritisiert die Kanzlerin

Die Kanzlerin kann zufrieden sein. Eine überwältigende Mehrheit der Parlamentarier stimmte für den Fiskalpakt.
Die Kanzlerin kann zufrieden sein. Eine überwältigende Mehrheit der Parlamentarier stimmte für den Fiskalpakt.

© dpa

Druck? Am Freitagnachmittag erlebt die Brüsseler Presse die übliche, die ungerührte Kanzlerin. „Druck ist in den Finanzmärkten“, sagt Merkel, „und ich habe gedrückt, dass die Prozeduren eingehalten werden.“ Die Prozeduren. Das ist ihr Teil der Mathematik. Auf der einen Seite der Gleichung steht eine Niederlage: Staaten wie Italien sollen künftig leichter an Euro-Hilfen kommen – sie müssen versprechen, sich an Regeln zu halten, aber sie werden nicht unter Kuratel gestellt. Außerdem werden einige Regeln am ESM-Mechanismus geändert mit der Folge, das Banken direkt Geld aus Europa bekommen.

Auf der anderen Seite der Gleichung steht ein Sieg: Das kommt erst, wenn eine europäische Bankenaufsicht unter Leitung der unabhängigen EZB steht. „Eine Superaufsichtsbehörde“ sei das, sagt Merkel. Superlative benutzt sie so gut wie nie. Dieser hier ist der politischen Mathematik geschuldet. Dort wiegt die Niederlage schwerer als der Sieg, schon weil sie leichter zu erkennen ist. Dass in Rom keine schwarzen Anzüge auftauchen – das ist so simpel, das begreift jeder.

In Berlin tut der SPD-Haushälter Carsten Schneider das Seine, um noch mehr auf die Waage zu drücken. Eine „180-Grad-Wende“ sei das, was man so aus Brüssel höre und lese, „eine krachende Niederlage der Kanzlerin“ dazu, und obendrein verändere es die Geschäftsgrundlage für den ESM – das wolle er genauer wissen, einer „Black Box“ stimme die SPD nicht zu.

Wie sich Regierung und Opposition im Bundestag fetzten

Schneider, man merkt es schon, neigt berufsbedingt zu gewissen Übertreibungen. Er ist aber nicht der Einzige, der sich fragt, ob man die Nachtsitzung in Berlin nicht lieber verschiebt. Auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier denkt kurz darüber nach. Steinmeier weiß um den Unmut in der eigenen Fraktion. Ziemlich viele sind es da inzwischen leid, immer wieder staatstragende Opposition sein zu müssen. ESM und Fiskalpakt brauchen aber die SPD, weil sie eine Zwei-Drittel-Mehrheit brauchen.

Drüben in den Regierungsfraktionen ist die Stimmung erst recht angespannt. Sie lesen die Berichte von einer Niederlage ihrer Kanzlerin. Fraktionsvize Michael Fuchs gibt den Knappen für seine Kanzlerin und versichert tapfer in die Kameras hinein: „Ich sehe nicht, dass die Regeln aufgeweicht worden sind.“ Eine weniger bekannte Abgeordnete schlüpft hinter ihm aus dem Fahrstuhl und hört den Satz. „Doch“, sagt die Frau vor sich hin.

Am frühen Abend ist der Bundestag gerammelt voll, das Kabinett komplett, auch auf der Bank des Bundesrats fast kein Stuhl leer. Was hier gleich fallen soll, hat den Namen „historische Entscheidung“ wirklich verdient. Wenn man zur Veranschaulichung den ESM mal auf die Abgeordneten umrechnet, müsste jeder für gut 300 Millionen Euro haften.

Merkels Jackett ist weiß wie die Unschuld und ihre Regierungserklärung, jedenfalls sofern sie sich auf die Brüsseler Nacht bezieht, wenig bürgerfreundlich. Die Wortfolge „Konditionalität im Zusammenhang mit Interventionen im Sekundär- und Primärmarkt“ dürfte jedenfalls keiner der vielen Schüler auf den Besuchertribünen verstanden haben.

Video: Merkel ist zufrieden mit den Brüsseler Beschlüssen

Die erleben zum Ausgleich dafür einen Sigmar Gabriel, der die Kanzlerin hinterhältig lobt, wie sehr sie sich beim Euro-Gipfel doch bewegt habe. Sie hören einen Jürgen Trittin, der sich freut, dass die Opposition auf der Abstimmung erst nach dem Gipfel bestanden hat und so der Kanzlerin in Brüssel „im Nacken gesessen“ habe. Sie erfahren ferner von Rainer Brüderle, dass er die Finanztransaktionssteuer, obwohl er ihr zugestimmt hat, weiter blöd findet, und von Volker Kauder und Wolfgang Schäuble, dass Merkel in Brüssel das Prinzip von „Solidarität und Solidität“ mitnichten geopfert habe.

Aber sie sehen auch die, die nicht mit Ja stimmen werden: Die Linke Sarah Wagenknecht etwa, die anklagend deklamiert: „Sie nehmen den Armen das Brot, weil Sie zu feige sind, den Reichen das Geld zu nehmen!“ Und sie erleben eine Premiere, die halbe Stunde der Dissidenten. Zum ersten Mal dürfen sie mit dem Segen ihrer Fraktionsspitzen reden. Peter Danckert bedankt sich dafür – der SPD-Mann wird spät am Abend in Karlsruhe Klage einreichen. Peter Gauweiler auch. Er hofft auf mehr von solcher Redefreiheit – sie seien ja keine „Quertreiber“, sondern nur ganz besonders in Sorge.

An den Mehrheiten ändert das Häuflein Abweichler aber nichts. Um Viertel vor Zehn hat nach dem Fiskalpakt auch der ESM die zwei Drittel der Stimmen im Bundestag auf sich vereint, der Bundesrat folgt noch in der Nacht. Zum Ende des Tages also noch ein Sieg für die Kanzlerin. Die lädierte Rüstung zu flicken kann aber dauern. Immerhin, wie sagte der getreue Knappe Michael Fuchs: „Die Kanzlerin hat dafür gesorgt, dass es nicht zu Eurobonds kommt.“ Wirklich, das Wort steht in keinem der Gipfel-Dokumente mehr. Auch bis dahin hat es aber eine harte Brüsseler Nacht gedauert, bis vier Uhr früh. „Das neue Instrument der Direkthilfen für Banken war Merkels Preis dafür“, sagt ein Brüsseler Gipfel-Teilnehmer. Wenn ein Wort für eine Lebenslinie steht, kann es eben ziemlich wertvoll werden. Dafür muss man im Notfall draufzahlen.

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