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Die Härte der Abschiebungen von heute resultiert unmittelbar aus der Politik der offenen Arme von einst.

© Christian Charisius/dpa

Merkels Flüchtlingspolitik: Wer Hoffnungen weckt, darf nicht nur abschieben wollen

Niemand hat die Flüchtlinge eingeladen. Aber Angela Merkels "Wir schaffen das" gepaart mit der Hilfsbereitschaft vieler musste wie eine Einladung wirken. Daraus entsteht Verantwortung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die neuen Schlagworte in der Flüchtlingspolitik heißen „schnell“ und „konsequent“. Es geht nicht mehr um eine Willkommens-, sondern um eine Abschiebekultur. Mit einem neuen 15-Punkte-Plan sollen abgelehnte Asylbewerber schneller und konsequenter in ihre Heimat gebracht werden. Darauf haben sich, im Prinzip jedenfalls, Bund und Länder geeinigt. Vorgesehen sind ein Rückführungszentrum, Sammelabschiebungen, umfangreichere Identitätsüberprüfungen.

Abschiebungen sind in aller Regel grausam. Aus Angst davor beschließen geflüchtete Familien, nie gemeinsam an einem Ort zu übernachten. Kinder werden aus Klassenverbänden gerissen, Freundschaften gekappt, Lebenswege blockiert, Träume zerstört. Kaum einer redet darüber, was mit deutschen Schülern passiert, die von einem Tag auf den anderen einen Freund oder eine Freundin verlieren und denen man erklären muss, warum „der Staat“ ihn oder sie abgeholt und abgeschoben hat. Welches Bild vom Staat entwickeln solche Schüler?

In viele Abschiebepflichtige hat dieser Staat zuvor investiert. Er hat sie versorgt, untergebracht, die deutsche Sprache gelehrt, gesundheitlich versorgt, manchen einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz organisiert. Zwar schadet es Menschen nicht, eine andere Gesellschaft, Kultur und Sprache kennenzulernen. Aber der Nutzen dessen wird durch eine Abschiebung zunichte gemacht.

Zwei Gruppen haben es in der Abschiebedebatte relativ leicht. Da sind zum einen die radikal Willkommenskulturellen, die das Asylrecht möglichst großzügig interpretieren und deren Blick sich fast ausschließlich auf die Menschen in Not richtet, weniger auf die Integrationsnöte des aufnehmenden Teils der Gesellschaft. Die Sorgen des „besorgten Bürgers“ gelten ihnen als Vorwand für Ressentiments. Für diese Gruppe sind Abschiebungen schlicht inhuman.

Notwendige Kehrseite eines Asylrechts, das kein Einwanderungsrecht sein darf?

Da sind zum anderen die Kritiker und Gegner der Willkommenskultur und der Politik der offenen Grenzen. Einige von ihnen befürworten eine Obergrenze für Flüchtlinge, andere beklagen den anhaltenden Kontrollverlust, befürchten eine Überforderung der Einheimischen bei der Integration. Emotionsgeladene Einzelfallschilderungen sogenannter Härtefälle prallen an ihrem Rechtsstaatsverständnis ab. Abschiebungen sind für sie das Gebot der Stunde, die notwendige Kehrseite eines Asylrechts, das kein Einwanderungsrecht sein darf.

Doch es gibt eine dritte Gruppe. Man könnte sie die humanen Realisten nennen. Sie haben Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 vorbehaltlos unterstützt, einige mögen sich in Flüchtlingscafés engagiert haben. Immer stärker allerdings wurden die Zweifel, ob sich Derartiges wiederholen darf. Inzwischen ist daraus Gewissheit geworden: Nein, das darf es nicht. Bilder aus überfüllten Turnhallen trugen dazu bei, die Ereignisse aus der Silvesternacht in Köln, Meldungen über Terroristen, die als Flüchtlinge getarnt eingereist waren. Die humanen Realisten haben die Schließung der Balkanroute ebenso begrüßt wie das EU-Türkei-Abkommen. Wie sollen sie sich zu den Abschiebungen verhalten?

Die Moralität von einst sollte nicht entwertet werden

Wer ehrlich ist, muss zugestehen, dass gute Absichten, wenn sie nicht von Weitblick begleitet sind, böse Folgen haben können. Die Härte der Abschiebungen von heute resultiert ja unmittelbar aus der Politik der offenen Arme von einst. Niemand hat die Flüchtlinge eingeladen zu kommen, aber Merkels Wir-schaffen-das-Rhetorik, zusammen mit der spontanen Hilfsbereitschaft vieler Deutschen, musste wie eine Einladung gewirkt haben. Wer Merkels Politik unterstützte, ist mitverantwortlich für die Hoffnungen, die dadurch geweckt wurden.

In Kanada wird das „Private Sponsorship of Refugees Program“ praktiziert. Kleine Einheiten – Nachbarschaftsgruppen, Kirchengemeinden, Sportvereine – übernehmen die Bürgschaft für Flüchtlinge. Der Staat wird aus der Verantwortung entlassen. Warum soll eine gut integrierte Familie, die enge Bindungen geknüpft hat und um die sich Menschen verpflichtend kümmern, abgeschoben werden? Wer eine solche Frage prinzipiell beantwortet, verliert rasch die menschlichen Dimensionen aus dem Blick.

Schnelle und konsequente Abschiebung von nicht Bleibeberechtigten sollten die Moralität von einst nicht entwerten. Vor anderthalb Jahren haben die humanen Realisten Träume in Menschen gepflanzt, die sich sonst vielleicht nie auf die beschwerliche Reise gemacht hätten. Von der Verantwortung für diese Träume können sie sich heute nicht entlassen.

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