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Abtreibungs-Gegner demonstrieren im Jahr 2016 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Merkels TV-Begegnung: Todesurteil Downsyndrom

Werden Kinder mit Downsyndrom zu leichtfertig abgetrieben? Die TV-Begegnung der Kanzlerin mit einer Betroffenen und ein bewegender Facebook-Post beleben die Debatte über das Lebensrecht Behinderter.

Dass Angela Merkel nochmal von einer acht Jahre zurückliegenden Unionsinitiative profitieren könnte, hätten sich wohl nicht mal ihre ausgebufftesten Strategen erwartet. Doch es war tatsächlich so: In der ARD-Wahlarena erinnerte die Kanzlerin daran, dass Abgeordnete ihrer Fraktion für Spätabtreibungen im Jahr 2009 eine Beratungspflicht samt dreitägiger Frist zwischen Diagnose und Schwangerschaftsabbruch durchgesetzt hatten. Es sei „unglaublich schwer“ gewesen, dafür eine Mehrheit zu bekommen, sagte Merkel – und erhielt warmen Beifall.

"Ich will auf der Welt bleiben"

Anlass für die Reminiszenz war die Wortmeldung eines Mädchen mit Trisomie 21, dem sogenannten Down-Syndrom. Die 18-Jährige in Jeans und Lederjacke wollte von der Kanzlerin wissen, wie sie es zulassen könne, dass Kinder wie sie hierzulande noch bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden dürfen. „Ich will nicht abgetrieben werden“, sagte Natalie Dedreux, „ich will auf der Welt bleiben“. Und nicht nur Merkel musste schlucken

Tatsächlich kommen in Deutschland nur noch wenige Babys mit Trisomie 21 zur Welt - obwohl das Alter der Gebärenden und damit das Risiko für den Defekt gestiegen ist. Expertenschätzungen zufolge entscheiden sich etwa neun von zehn Schwangeren bei entsprechender Diagnostik für eine Abtreibung – was auch und vor allem an den verfeinerten Methoden der Früherkennung liegt. Allerdings ist diese Zahl, die in Studien immer wieder auftaucht, nicht wirklich verlässlich. Sie beruht letztlich nur auf Stichproben in sehr kleinen Regionen.

CDU-Politiker fordert statistische Erfassung

Weder zur Abtreibung noch zur Geburt von Kindern mit Trisomie 21 werden hierzulande Statistiken geführt. Der CDU-Abgeordnete und frühere Behindertenbeauftragte Hubert Hüppe nennt das „aktives Wegsehen“. „Wer wissen will, wie man Frauen in solchen Situationen besser unterstützen kann, muss das statistisch erfassen“, sagte er dem Tagesspiegel. Was man weiß: Die Zahl der registrierten Schwangerschaftsabbrüche sinkt seit 2001 beständig. Im vergangenen Jahr lag sie bei 98.721. Darunter waren 2829 Spätabtreibungen. Das heißt: In 2,9 Prozent der Fälle erfolgte der Abbruch erst nach der zwölften Schwangerschaftswoche.

"Ich will auf der Welt bleiben". Der Appell der 18-Jährigen Natalie Dedreux an die Kanzlerin bewegte Hunderttausende von Fernsehzuschauern.
"Ich will auf der Welt bleiben". Der Appell der 18-Jährigen Natalie Dedreux an die Kanzlerin bewegte Hunderttausende von Fernsehzuschauern.

© WDR/dpa

Anders als bei der Gesamtzahl gebe es bei medizinisch indizierten Abtreibungen, zu denen Abbrüche wegen Morbus Down gehören, keinen Rückgang, sagt Heribert Kentenich, der frühere Chefarzt der DRK-Frauenklinik in Berlin-Westend. 3785 waren es im vergangenen Jahr. Aus der Sicht des Experten, der mittlerweile als Reproduktionsmediziner arbeitet, funktionieren aber die Beratungsregelungen. Ob sich betroffene Frauen mit dem Infomaterial zum Leben mit Downsyndrom-Kindern beschäftigten, sei zwar ihre Sache. Aber die Dreitages-Frist zwischen Diagnose und Abbruch schütze das Kind allemal vor einer Schockreaktion der Mutter.

Deutschland bildet bei Abtreibungen EU-weit das Schlusslicht

Kentenich ist sich sicher: „In Deutschland wird am verantwortungsvollsten mit Schwangerschaftsabbrüchen umgegangen.“. Das belege der EU-Vergleich. Mit sechs legalen Abtreibungen pro 1000 Geburten bildet Deutschland das Schlusslicht – abgesehen von Irland und Polen, wo Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stehen. In Großbritannien ist die Quote mehr als doppelt, in Schweden sogar dreimal so hoch.

Bei Menschen mit Down-Syndrom ist aufgrund einer Genommutation in den Zellen das 21. Chromosom nicht doppelt, sondern dreifach vorhanden – was zu körperlicher und meist auch geistiger Beeinträchtigung führt. Statistisch kommt derzeit auf etwa 600 bis 700 Geburten ein Baby mit Downsyndrom. 2012 litten in Deutschland 30.000 bis 50.000 Menschen unter diesem Defekt. Und dass immer mehr Ungeborene aufgrund entsprechender Diagnose abgetrieben werden, macht auch den Lebenden zu schaffen.

Suche nach Adoptiveltern auf Facebook

Insofern war Merkels TV-Konfrontation mit der 18-Jährigen vielleicht kein Zufall. Denn just in der Woche vorher hatte der Facebook-Post eines Hamburgers zahlreiche Menschen bewegt. Raphael Brinkert, selber Vater eines Down-Syndrom-Kindes, suchte auf diesem ungewöhnlichen Weg nach Adoptiveltern für einen kleinen Jungen mit Trisomie 21, der Mitte August geboren wurde und womöglich im Heim aufwachsen müsse.

In nur zwei Tagen wurde sein Aufruf von mehr als 5000 Menschen geteilt – und mehrere hundert hätten auch ihre Bereitschaft erklärt, das Kind bei sich aufzunehmen, teilte die zuständigen Senatsbehörde mit. Allerdings sei das Baby noch zu klein, eine Freigabe zur Adoption sei laut Gesetz erst nach frühestens acht Wochen möglich.

Neuartiger Bluttest bewegt die Gemüter

Auf die politische Agenda rückte das Thema nochmal im vergangenen Jahr –durch einen Hilferuf des Entscheidungsgremiums von Krankenkassen, Ärzte- und Klinikvertretern an den Gesetzgeber. Es ging um die Frage, ob ein neuer Schwangerschaftstest auf Genmutationen wie etwa das Down-Syndrom künftig zum gesetzlichen Leistungskatalog gehören soll oder nicht – und für wen genau. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) fühlte sich mit der Entscheidung überfordert, weil diese „fundamentale ethische Grundfragen“ berühre.

Bis vor kurzem nämlich ließ sich nur durch Plazenta- oder Fruchtwasser-Untersuchungen verlässlich vorhersagen, ob Ungeborene unter solchen Mutationen leiden und behindert auf die Welt kommen. Die Kassen zahlen Risikopatientinnen diese Verfahren – doch sie sind für die Föten nicht ungefährlich, weil die Bauchdecke dabei mit einer Nadel durchstoßen werden muss. Neuerdings gibt es dafür jedoch auch risikoärmere Bluttests. Die sind aber weit teurer – und die Kosten von 250 bis 450 Euro haben die Eltern allein zu tragen. Zuzüglich der Arzthonorare.

Darf man Schwangeren risikoärmere Untersuchungen vorenthalten?

Kritiker warnen davor, dass solche Tests, wenn man sie gesetzlich finanziert, zur Routine würden. Dass man „gezielt nach Föten mit Behinderung sucht“ und dies dann „in aller Regel zur Abtreibung führt“, stehe in Widerspruch zum Grundgesetz und zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, betont etwa Ulla Schmidt, die Vorsitzende der Lebenshilfe. Auch die Kirchen warnen vor einem „Abtreibungsautomatismus“.

Doch darf man Schwangeren mit weniger Geld risikoärmere Tests vorenthalten? Und müssen Mediziner unter den verfügbaren Therapien nicht grundsätzlich die für den Patienten am wenigsten gefährlichen wählen? Fragen, die nach wie vor politisch nicht beantwortet sind und mit denen sich die Abgeordneten nach der Bundestagwahl womöglich noch intensiver zu beschäftigen haben. 2018 will das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) die neuen Tests bewertet haben, danach steht die Entscheidung über die Kassenerstattung an.

Eltern verklagen Ärzte auf Schadensersatz

Im vergangenen Jahr rührte zudem ein Film über das Ringen betroffener Eltern Hunderttausende zu Tränen. In dem auf der Berlinale uraufgeführten Streifen „24 Wochen“ mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel hat die Mutter am Ende, als bei dem Ungeborenen auch noch ein Herzfehler dazukommt, eine einsame Entscheidung über Leben und Tod zu treffen. Und dann war da auch noch dieser Gerichtsprozess in München: Ein Ehepaar wollte von Frauenärzten den finanziellen Schaden für ein Down-Syndrom-Kind erstattet haben, weil diese den Defekt nicht rechtzeitig diagnostiziert hatten.

Wenn sie von der Behinderung gewusst hätten, so die Argumentation der Eltern, hätten sie das Kind abgetrieben. Die Klage wurde abgewiesen – aber nicht etwa, weil ein Mensch juristisch nicht als Schaden verstanden werden könnte, sondern weil das Gericht im speziellen Fall bei den Ärzten keinen Fehler sah. Die ethische Frage, ob und inwiefern die moderne Medizin Eltern das „Recht auf ein gesundes Kind” zu bieten hat, blieb ungeklärt.

Grundgesetz kennt kein "wrongful life"

Unter Juristen und Ethikern wird das Problem des “wrongful life” heftig diskutiert. Gibt es Menschen, die nie hätten geboren werden dürfen und für deren Existenz Mediziner im anderen Fall haften müssen? Können nicht auch Schwerstbehinderte ein erfülltes Leben führen? Wer sollte dafür Kriterien entwickeln? Das Grundgesetz ist hier klar: Es erkennt jedem Würde zu und das Existenzrecht jedes Menschen gleichermaßen an. Dennoch bleibt der Fakt, dass solche mit vorhersehbaren Defekten mit politischer Billigung zunehmend schon im Mutterleib aussortiert werden. Und dass Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, auch dadurch immer stärker unter Rechtfertigungsdruck geraten.

Und Merkels Antwort an Natalie? Die Kanzlerin verwies mit bedrückter Miene auf die Entscheidungsfreiheit der Eltern. Viele hätten einfach große Angst, ein behindertes Kind zu bekommen. Sie wüssten oft nicht, wie gut sie unterstützt werden könnten. Die 18-Jährige sei jedenfalls das beste Beispiel dafür, wie man Menschen mit Behinderungen durch gute Betreuung und Bildung fördern könne. „Es steckt so viel in jedem“, sagte die sichtlich berührte Regierungschefin. „Danke, dass Sie hier sind.“

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