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Die westliche Kleinfamilie ist ein Sonderweg, hier eine Aufnahme von ca. 1955.

© mauritius images

Merkwürdig und erfolgreich: Der Westler ist der historische Sonderling

Die westliche Psyche hat einen kuriosen Sonderweg genommen. Wie ein kanadischer Anthropologe die Welt auf den Kopf stellt. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Andrea Nüsse

Zum Abitur bekam ich von meiner Berliner Schule Leopold Rankes „Preußische Geschichte“ geschenkt. Ein dicker Band, den ich trotz des späteren Geschichtsstudiums nie aufgeschlagen habe. Heute scheint der Anspruch des Historikers Rankes, die Geschichte so aufzuschreiben „wie sie wirklich gewesen ist“ noch veralteter als damals; auch ist reine Staatengeschichte aus der Mode. 

Aber das Bedürfnis, in der Geschichte Erklärungen auch für das Hier und Jetzt zu finden ist gleichermaßen groß.  So beschäftigt der historische Wettlauf zwischen West und Ost in der Weltgeschichte wieder verstärkt die Gemüter - ist er doch topaktuell angesichts des offen ausgebrochenen Kampfes um wirtschaftliche und kulturelle Dominanz zwischen den USA und China, in dem sich irgendwo mittendrin auch Europa wiederfindet.

Da will doch jeder besser verstehen, warum der sogenannte Westen - die Nordamerika, Europa, Australien – so lange die Weltgeschichte und Weltwirtschaft dominierte. Man mag sich der eigenen Identität versichern und will wissen, ob man aus der Geschichte herauslesen kann, wie es weiter geht. So eine Art wissenschaftliches Horoskop. 

Da kommt das dicke und bahnbrechende Werk des kanadischen Anthropologen Joseph Henrich, das gerade auf Englisch erschien, gerade recht: Unter dem verheißungsvollen Titel „The weirdest people in the world“ („Die schrägsten Menschen der Welt. Wie der Westen psychologisch so eigenartig und wirtschaftlich so erfolgreich wurde“) erfährt der westliche Leser alles über sich selbst, was er wissen wollte und sollte.

Seine besondere Psyche verdankt der westliche Mensch der katholischen Kirche

„Weird“ wird hier nicht nur im Sinne von „sonderbar“ genutzt, sondern als Akronym für „Western, educated, industrialized, rich, democratic“. Das bedeutet, dass die Entwicklung des westlichen gesellschaftlichen und kulturellen Modells, welches das Individuum anbetet, das mit sich Selbst und seiner Selbstbestimmung beschäftigt ist, global gesehen die absolute Ausnahme weltweit war und ist.

Andere Gesellschaften leben und denken viel mehr in kollektiven Bezügen und entwickeln sich deshalb psychologisch anders. Loyalität ist in einem auf familiären oder stammesartigen Strukturen basierender Gesellschaft lebenswichtig, in individualisierten westlichen Gesellschaften mit ihrer Kleinfamilie dagegen muss der Einzelne offener auf Fremde zugehen, schließt sich freiwilligen Verbänden an und Kooperieren ist überlebenswichtig.

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Und diese seine besondere Psyche verdankt der Westler der katholischen Kirche: Sie hat Verwandtschaftsverhältnisse im Westen grundlegend geprägt, die sich mit ihrem Inzestverbot und ihrem Beharren auf der Institution der Ehe von anderen Weltregionen unterscheiden.  Der Protestantismus und die Aufklärung waren dann weitere „sonderbare“ Entwicklungen auf dieser Basis.

Für die Weltentheorie hat Henrich Studien der Evolutionsbiologie, der Wirtschaft, der Psychologie und der Anthropologie zusammenführt, dass es einem bange wird.  Eine Nebenerkenntnis: Psychologische Studien sind oft unbrauchbar, weil die Probanden überwiegend WEIRD-people sind – vor allem amerikanische College-Studenten füllen die Datenbasen. Und Henrich versucht das Unmögliche: Dem Westler trotz seiner Erfolgsgeschichte der vergangenen Jahrhunderte Bescheidenheit einzuimpfen. Wahnsinnig spannend, sicher kontrovers.  Denn die Versuche, die Menschheitsgeschichte zu erklären, führen immer zu einer Reduktion und monokausalen Erklärungen: So liest dich der kanadische Anthropologe auch als Gegenstück zu dem Archeologen und Althistoriker Ian Morris, der uns  vor zehn Jahren mit einem ähnlich beeindruckenden Parforceritt ("Why the West rules - for now“ ) die Erfolgsgeschichte des Westens  ganz anders erklärte. Nicht Kultur, sondern Geographie und Ressourcen seien entscheidend gewesen. Womit Leopold Ranke schwindelig werden dürfte, denn wie ist es denn nun „eigentlich“ gewesen? Aber sein Werk behält trotz allem einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.

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