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Abschreckung. Israelische Sicherheitskräfte haben das Haus eines Attentäters in Hebron zerstört. Der junge Mann hatte nach Angaben der Behörden zuvor einen Soldaten angegriffen und war daraufhin getötet worden.

© Abed Al Hashlamoun/dpa

Messer-Attacken in Israel und Westjordanland: Wie aus Kindern Attentäter werden können

Viele palästinensische Attentäter sind Kinder und Jugendliche - in einem Umfeld von Hoffnungslosigkeit, Armut und Waffenpräsenz. Eine Analyse der Gründe, warum sie zum Messer greifen.

Zurück bleiben leere Kinderzimmer. Bunt dekoriert, mit Zeichnungen an der Wand und Teddybären auf dem Bett. Und Eltern, die nicht verstehen, wie ihre Kinder zu Terroristen werden konnten.
Auch Umm Rashid and Ismail al Wawi ahnten nicht, dass ihre Tochter an einem Morgen im Februar nicht nur die Schulbücher in ihre Tasche packte, sondern auch ein Messer unter ihre Jacke. Dass sie, anstatt zur Schule, in eine nahe gelegene jüdische Siedlung im besetzten Westjordanland lief. Einem Sicherheitsmann am Eingang kam das arabische Mädchen verdächtig vor, noch bevor es das Messer zückte. Die Zwölfjährige wurde festgenommen.

Der Vorfall vom Februar ist kein Einzelfall. Das israelische Außenministerium zählt seit dem 13. September 2015 206 Messerattacken, 66 davon konnten rechtzeitig verhindert werden, 83 Angriffe mit Schusswaffen und 42 Fälle, in denen Palästinenser mit Autos in Menschengruppen rasten. Insgesamt wurden dabei 34 Menschen getötet und 404 verletzt. Medienberichten zufolge ist rund ein Drittel der Täter unter 20 Jahre alt.

In sozialen Netzwerken zu Helden stilisiert

Dass es ausgerechnet Jugendliche sind, die ihr Leben riskieren, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich selbst erschossen werden können, ist für Psychologen wenig verwunderlich. Jugendlicher Leichtsinn – so banal es klingen mag – ist eine der Grundvoraussetzungen. „Nehmen wir das Wort Infanterie, also die Bodentruppen. Das Wort leitet sich von infant ab, also Kind. Es ist viel leichter, junge Menschen für den Krieg zu rekrutieren, sie loszuschicken, um zu töten“, sagt der klinische Psychologe Yotam Dagan. Er hat Profile von Selbstmordattentätern erstellt, heutet arbeitet er mit Traumaopfern. Viele der Täter würden nicht zu den Anführern in ihrer Altersgruppe zählen. Wenn sie aber mit Messern auf Israelis losgingen, würden sie in den sozialen Netzwerken zu Helden stilisiert.

Im Vergleich zu den anderen Intifadas braucht es heutzutage nur noch einen Internetzugang und keinen direkten Kontakt mehr zu radikalen Terrorgruppen, die einzelne Attentäter rekrutieren.
Hinzu kommt die soziopolitische Situation der Palästinenser: „Viele Jugendliche haben keinerlei Hoffnung. Sie können kein unabhängiges Leben führen, mit einer guten Ausbildung und einem vernünftigen Job“, erklärt Kinderpsychologe Shafiq Masalha, der auch gewalttätige Jugendliche in seiner Praxis in Ostjerusalem behandelt.

Das militarisierte Umfeld

Zahlen der Menschenrechtsorganisation ACRI belegen, dass in Ostjerusalem rund 84 Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze leben. Gleichzeitig wächst die Generation der heutigen Attentäter in einer militarisierten Umgebung auf: „Sie interagieren fast täglich mit den bewaffneten Soldaten, auf dem Weg in die Schule oder von Stadt zu Stadt“, sagt Bashar Jamal, der für das Ramallah-Büro der NGO „Defense for Children International“ arbeitet. Diese Erlebnisse hinterließen Spuren.

Auch die Patienten von Shafiq Masalha erzählen von Fällen an Checkpoints, in denen sie von Soldaten erniedrigend behandelt und beispielsweise aufgefordert werden, sich für die Sicherheitskontrolle auszuziehen. „Die Polizei und das Militär müssen verstehen, dass nichts Gutes dabei rauskommen kann. Klar müssen sie kontrollieren, aber mit Respekt“, so Mashala. „Erwachsene können vielleicht noch mit Demütigung umgehen, aber für Jugendliche ist das besonders hart.“

Die Eltern haben oft zu wenig Zeit für ihre Kinder

Frustrierte Jugendliche, die sich im Internet zu Attentaten anstacheln lassen: Wäre es da nicht Aufgabe der Eltern, früher einzugreifen? „Als Vater von vier Jungen kann ich sagen, dass es schwer ist, sie ständig zu beobachten“, sagt Yotam Dagan. Vor allem in Zeiten des Internets. „Doch während das im Westen zu einem Thema wurde, man Bücher darüber geschrieben hat und Eltern versuchen, mit ihren Kindern zu sprechen, ist das in der palästinensischen Gesellschaft, die im Umbruch steckt, nicht der Fall.“

Für Bashar Jamal kommt hier noch einmal die Besatzung ins Spiel: Viele Eltern arbeiteten in Siedlungen oder in Israel und müssen dafür um fünf Uhr morgens das Haus verlassen, weil sie stundenlang an den Sicherheitskontrollen warten. „Es ist keine Rechtfertigung, aber: Diese Eltern haben wenig Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern.“ Auch Ismail al Wawi, der Vater der zwölfjährigen Attentäterin, arbeitete in Israel.

In Interviews mit israelischen Medien zeigten er und seine Frau sich hilflos und traurig. Es mag immer wieder Fälle geben, in denen Eltern die Taten ihrer Kinder vor laufenden Kameras glorifizieren, das weiß auch der Kinderpsychologe Shafiq Masalha. Sie täten dies aber oft, um in der palästinensischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. „Ich habe hier in meiner Praxis noch keine Eltern getroffen, die ihre Kinder dazu angestachelt oder wirklich stolz gewesen wären.“

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