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Gut behüteter Protest: Demonstration für das Frauen-Wahlrecht in Bellin im Mai 1912.

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Neuer Blick auf die deutsche Geschichte: Gewalt und Geschlechterordnung

Die Historikerin Hedwig Richter behauptet, dass sich die Demokratie in Deutschland langsamer durchgesetzt hätte, wenn nur Männer für sie geworben hätten.

Von Hans Monath

Es war nur eine einzelne Leserbriefschreiberin, aber sie brachte ihr Anliegen 1848 in einer Wiener Revolutionszeitung „im Namen Unzähliger“ vor: „Wir beanspruchen Gleichheit der politischen Rechte. Warum sollen Frauen nicht in den Reichstag gewählt werden?“, proklamierte sie. Mehr als 170 Jahre später erinnert Hedwig Richter in ihrem Buch „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ an diese Forderung, die vielen heute selbstverständlich vorkommt. Damals war sie es nicht.

Von der an der Universität der Bundeswehr in München lehrenden Historikerin stammt der Satz: „Die Gleichberechtigung ist ein wichtiges, weltstürzendes und großartiges Projekt, das alle angeht.“ Immer wieder hatte Richter beklagt, dass in der bisherigen historischen Betrachtung der Demokratie die Frauen fast vollständig ausgeblendet waren, obwohl die Entwicklung der politischen Partizipation durch Wahlen über die Zeit ohne einen Fokus auch auf die Rolle der Frauen weder verständlich noch erklärbar sei.

Die Unkenrufe zur Zukunft der Demokratie schrecken die Autorin nicht

An der Behebung dieses Mangels arbeitet Richter seit Jahren. Nun hat sie ihre Ergebnisse in einem Werk komprimiert, das sich nicht nur an Freundinnen und Freunde einer feministisch inspirierten Historiographie, sondern an ein breites Publikum wendet.

Ihr Buch spannt den Bogen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Richter hat aber auch starke Vorstellungen davon, wie es weitergehen wird mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung. Sie ist ein bekennender Fan der liberalen Demokratie und sagt ihr allen Unkenrufen zum Trotz eine große Zukunft voraus.

Eine Revolutionärin, die nicht ins Deutungsmuster Hedwig Richters passt: Rosa Luxemburg; links ihr Mitstreiter Karl Liebknecht. 
Eine Revolutionärin, die nicht ins Deutungsmuster Hedwig Richters passt: Rosa Luxemburg; links ihr Mitstreiter Karl Liebknecht. 

© picture-alliance / dpa

Dass Frauen in diesem Buch ins Licht geholt werden und eine prominente Rolle spielen, ist nur folgerichtig. Da ist etwa die Französin Olympe de Gouges, die schon 1791 die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ verfasste. Denn auch die französischen Revolutionäre stürzten zwar die Monarchie, dachten aber nicht daran, an der Ordnung der Geschlechter zu rütteln. Aus den Menschenrechten leiteten sie nur Männerrechte ab, die postulierte Gleichheit galt für Frauen nicht.

Die Rolle von Revolutionen, so argumentiert die Autorin, werde in der Geschichte der Demokratie weit überschätzt. Nach ihrer Meinung verdankt sich die Beteiligung der breiten Massen an der Politik mehr der Reform von oben als dem gewalttätigen Umsturz.

Auch hier spielt die Geschlechterfrage eine wichtige Rolle: Revolutionen sind für die Autorin die Domäne gewalttätiger junger Männer – im Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution ebenso wie beim Terror zur Durchsetzung der NS-Herrschaft. Sie vertritt die These: Für Reformen auf dem Weg zur liberalen Demokratie leisten Frauen – auch in Deutschland – entscheidende Vorarbeit, auch wenn dieses weitaus weniger dramatische Geschehen in den Geschichtsbüchern kaum vorkommt. Immer wieder bestätigten Forschungen, dass „reformerische, friedliche, ausgehandelte Transformationen wesentlich besser funktionieren“, schreibt die Autorin und fügt hinzu: „Nicht zuletzt weil hier Frauen stärker beteiligt sind.“

Laut Richter waren es aufgeklärte Eliten, die in Deutschland um 1800 die Einsicht verbreiten, dass Herrschaft durch die politische Beteiligung der Beherrschten gestärkt wird. Doch auch die preußischen Reformer mussten zunächst die Erfahrung machen, dass die Bürger an den neu eingeführten Wahlen zunächst wenig Interesse zeigten und deshalb an manchen Orten mit dem Ausschank von Alkohol an die Urne gelockt werden mussten.

Ein feines Gespür hat die Historikerin für die Dialektik der Demokratie. Nicht nur das Interesse an politische Mitentscheidung sei für deren Entwicklung ausschlaggebend gewesen, sondern auch das „gouvernmentale Interesse der Eliten an breiteren Partizipationsrechten“. Die nämlich hätten erkannt, welche Bindungskraft die Mitwirkung entfaltete. Demokratie setzt Ordnung voraus, ermöglicht Kontrolle, verlangt Selbstdisziplin und geht mit Einschränkungen einher – übrigens bis hin zum weitgehenden Ausschluss plebiszitärer Elemente im Grundgesetz, die Richter verständlicherweise für folgerichtig hält.

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Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland 1919 galt bislang als Ergebnis der Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Autorin argumentiert, eine solche Darstellung unterschlage die Vorarbeit von Frauen im Kaiserreich. Sie schildert eine sehr starke und selbstbewusste Frauenbewegung, die auch international gut vernetzt war und nach einer Konferenz mit Vertreterinnen aus anderen Ländern 1904 in Berlin den ersten internationalen Verein für das Frauenstimmrecht gründete.

Eine Verbindung von konservativer und feministischer Deutung?

Fast nebenbei verabschiedet Richter die These vom deutschen Sonderweg, wonach die politische Partizipation in Deutschland mit der fortgeschrittenen industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung anders als im Westen nicht Schritt hielt. Die „Revolution von oben“ sei keineswegs ein typisch deutscher Kurs gewesen, „sondern vielmehr der gängige europäische Weg“, schreibt sie.

Dass Richter die Entwicklung der Demokratie in anderen Ländern im Blick hat, ist ein großer Vorteil. Doch obwohl sie auch die Rolle der Arbeiterbewegung bei der Entstehung der Demokratie durchaus würdigt, kommen die sozialen Entwicklungen in ihrem Buch womöglich zu kurz, weshalb sie auch wenig Interessen an den rückständigen, dunklen Seiten Preußens zeigt.

Der Rezensent der „taz“, Stefan Reinecke, hat Richters Buch eine Verbindung von feministischer und konservativer Deutung bescheinigt. Und es stimmt: Klassenkämpfe und Aufstände – eben das Werk der jungen, gewalttätigen Männer – sind ihre Sache nicht. Auch in der Beschreibung des 19. Jahrhundert stützt sich die Autorin häufiger auf den Konservativen Thomas Nipperdey als etwa auf den Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler. In marxistischer Diktion könnte man sagen: Der Hauptwiderspruch ist für Richter der Ausschluss der Frauen von politischer Teilhabe, Kapital und Arbeit sind für sie eher ein Nebenwiderspruch.

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Dumm nur, dass ausgerechnet die berühmteste deutsche Revolutionärin, Rosa Luxemburg, als Frau gar nicht in dieses Raster passt. Pflichtschuldig nennt die Autorin an zwei Stellen deren Namen, doch eine Einordnung von Luxemburgs Wirken als Frau in ihr eigenes Deutungsmuster oder eine Erklärung der Ausnahme versucht sie nicht. Womöglich müsste die auch scheitern.

Nicht nur in England kämpften Frauen für ihr Recht - hier Emmeline Pankhurst bei einer Rede. Sie hatte 1903 die Women's Social and Political Union gegründet.
Nicht nur in England kämpften Frauen für ihr Recht - hier Emmeline Pankhurst bei einer Rede. Sie hatte 1903 die Women's Social and Political Union gegründet.

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Doch ihre Argumente für die stärkere Wirkung von Reformen sind trotzdem stark. Und ihr Interesse für die Rechte von Frauen liefert plausible Hinweise auch zur Deutung der Gegenwart. „Wenn die alte Geschlechterordnung infrage gestellt wird, entstehen Gegenkräfte“, schreibt sie – und nennt das Aufblühen des Rassismus und der völkischen Bewegung um 1900, den Aufstieg des Faschismus in der Zwischenkriegszeit, aber auch die Intoleranz und Aggressivität der AfD in der Gegenwart.

Aber den Populismus von rechts sieht Richter nicht als existenzielle Gefahr für das Phänomen, das sie beschreibt. „Die Krise ist der Modus der Demokratie“, schreibt sie und warnt vor der illusorischen Vorstellung, es habe jemals eine geglücktere Form der Demokratie gegeben als in der Gegenwart: Es sei schließlich noch nicht allzu lange her, dass „weiße Männer ihr Monopol in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft für selbstverständlich hielten“. Deshalb gelte: „Die Nostalgie vieler Intellektueller ist ein Luxus, den sich Frauen und Minderheiten nicht leisten können.“

Und wie liest sich das Ganze? Das Geschehen wird chronologisch erzählt, nicht um Thesen gruppiert. Zuweilen gerät die Darstellung zur Aufzählung; manchmal fehlt es an Elan, eine packende, stringente Erzählung durchzuhalten. An anderer Stelle glänzt die Autorin mit kuriosen Entdeckungen und originellen, manchmal fast augenzwinkernd vorgetragenen Schlussfolgerungen. Jedenfalls blättert das Buch der menschenfreundlichen Feministin Hedwig Richter nicht nur erstaunliche neue Seiten der deutschen Geschichte auf, sondern liefert auch sehr nützliche Hinweise, wenn es um das Verständnis der Demokratie in der Gegenwart geht.

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