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© Klaas

Michael Sommer: "Die Verursacher müssen zahlen"

"Auch die SPD war vom Virus der Deregulierung und des Sozialabbaus infiziert" : Gewerkschaftschef Michael Sommer über den 1. Mai und die Verantwortung der Politik in der Krise.

Herr Sommer, darf man mit den Ängsten von Menschen spielen, um ein politisches Ziel zu erreichen?



Nein, das darf man nicht, und das tue ich auch nicht.

Sie haben Ihre Forderung nach einem dritten Konjunkturpaket mit drohenden sozialen Unruhen begründet.

Nein, mit der Vertiefung der Krise. Damit habe ich eine berechtigte Sorge artikuliert. Was man nämlich auch nicht darf, ist den Menschen eine heile Welt vorgaukeln, die es längst nicht mehr gibt. Es ist doch so, dass viele Menschen in der Hoffnung leben, dass die beschlossenen Beschäftigungsbrücken und Konjunkturprogramme halten und helfen werden, bis die Krise vorbei ist. In dieser Hoffnung werden sie von der Regierung bestärkt. Aber diese Hoffnung ist nicht mehr ausreichend durch die Vorsorgemaßnahmen des Staates gedeckt.

Haben Sie Anzeichen für soziale Unruhen?

Wenn ich mit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben rede, dann erfahre ich zuerst einen gewissen Dank dafür, dass alle gemeinsam, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politik, bisher die schlimmsten Auswirkungen der Krise abwenden konnten. Aber ich höre auch den Auftrag, nicht locker zu lassen. Die Menschen wissen sehr genau, wie es in den Auftragsbüchern ihrer Firmen aussieht und was es bedeutet, wenn da Ebbe ist. Dann fragen sie, wieso dieses Land mit 500 Milliarden Euro der Steuerzahler zwar Banken, aber nicht ihren Arbeitsplatz retten kann. Wenn also Massenarbeitslosigkeit eintritt, gleichzeitig die Regierung nicht zusätzlich gegensteuert und nach der Wahl das Abladen der Krisenlasten bei den Opfern und nicht den Verursachern der globalen Rezession droht, dann haben wir ein explosives Gemisch. Das könnte Zorn und Wut der Betroffenen auslösen. Das will ich vermeiden. Deshalb warne ich Politik und Arbeitgeber eindringlich vor solchen Fehlentscheidungen.

Soziale Unruhen – das hat den Beiklang von Revolte.

Ich habe nie von Revolte gesprochen.

Was haben Sie denn gemeint? Befürchten Sie Ausschreitungen, wenn die Krise in Form von Massenentlassungen auf dem Arbeitsmarkt ankommt?

Nein. Wenn Politik und Arbeitgeber in der Krise versagen, zehntausende, womöglich hunderttausende Menschen ihre Existenz verlieren und auch noch die Beschäftigten die Zeche der Krise zahlen sollen, dann könnte der Unmut der Menschen auch in Deutschland andere Formen als bisher annehmen.

Woher wollen Sie das wissen? Die Konjunkturprogramme 1 und 2 wirken doch noch gar nicht in vollem Umfang.

Als die Regierung die beiden ersten Konjunkturpakete geschnürt hat, geschah dies aufgrund der Annahme, die Wirtschaftsleistung werde um 2,25 Prozent zurückgehen. Jetzt rechnen Regierung und Wirtschaftsexperten aber mit einem Rückgang von fünf bis sieben Prozent. Das beweist: Es muss nachgebessert werden – und zwar sofort.

Wenn es nach dem DGB ginge, müsste die Regierung für ein drittes Paket 100 Milliarden Euro in die Hand nehmen.

Das ist so nicht richtig. Ich plädiere für zweierlei: Erstens müssen die bisherigen Maßnahmen vertieft und verbreitert werden. Zweitens brauchen wir ergänzend ein mittelfristig wirkendes Zukunftsinvestitionsprogramm. Notwendig sind die Verbesserung der Bildung, der Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und der Energie- und Kommunikationsnetze sowie die Sanierung der Krankenhäuser. Zusammen würde das wohl Kosten in der von Ihnen genannten Größenordnung verursachen. Die Alternative wäre aber, dass wir kommenden Generationen ein heruntergewirtschaftetes Land und Schulden hinterlassen. Das käme sie noch viel teurer zu stehen.

Was muss kurzfristig getan werden?

Wir brauchen unter anderem eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze auf 420 Euro sowie die Ausgabe von Konsumschecks in Höhe von 250 Euro bis zu einem Bruttoeinkommen von 35 000 Euro. Beides würde 23 Milliarden kosten – und sofort wirksam sein. Ich bin sicher: angesichts der Tiefe und der Dauer der Krise werden die Rufe nach einem dritten Konjunkturprogramm auch bei Union und SPD schnell lauter werden.

Bisher sind die Deutschen in der Krise gelassen geblieben. Warum?

Das hat auch mit der Besonnenheit der Tarifpartner zu tun, die in der Krise bisher gut kooperieren. Begleitet von klugen Gewerkschaften und Betriebsräten haben die meisten Arbeitgeber bisher nicht versucht, wie in früheren Konjunkturflauten mit betriebsbedingten Kündigungen die Krise zu bewältigen.

Was haben Gewerkschaften beigetragen?

Viele ernten jetzt zum Beispiel die Früchte einer klugen Tarifpolitik. Wir haben den Aufbau von Arbeitszeitkonten durchgesetzt, die jetzt aufgebraucht werden können. Und wir haben mit den Arbeitgebern zahlreiche Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung schon vor der Krise geschlossen. Das scheint zu halten. So haben beide Seiten bei der Krisenrunde im Kanzleramt unabgesprochen zusätzliche Erleichterungen beim Kurzarbeitergeld gefordert, um noch besser Arbeitslosigkeit vermeiden zu können. Aber ich sage auch: Die beste Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik kann Konjunktur- und Beschäftigungspolitik nicht ersetzen.

Rufen Sie zu Demonstrationen auf, wenn die Regierung Ihrer Forderung nicht folgt?

Das kann ich nicht ausschließen, hängt aber von der weiteren Entwicklung ab.

In Frankreich häufen sich die Fälle von sogenanntem Bossnapping. Hätten Sie Verständnis dafür, wenn aufgebrachte Arbeitnehmer ihre Chefs in Protestaktionen als Geisel nehmen?

Nein, das lehne ich strikt ab. Das ist keine Form des Protestes, die für uns akzeptabel wäre. Man kann nicht für Freiheit und Demokratie kämpfen und gleichzeitig Leute kidnappen.

Braucht Deutschland das Recht auf Generalstreik?

Die bestehenden Demonstrations- und Streikrechte reichen aus. Ein Generalstreik ist in Deutschland dann möglich, wenn es gilt, einen Angriff auf die freiheitlich demokratische Ordnung unserer Republik abzuwehren. Davon kann nicht die Rede sein.

Der 1. Mai ist der Kampftag der Arbeiterklasse. Wird es in diesem Jahr einen anderen 1. Mai als in den Jahren zuvor geben?

Ich erwarte, dass bei allen Maidemonstrationen die Krise im Vordergrund stehen wird. Wir haben tausende Aufkleber drucken lassen, auf denen steht: „Die Krise bewältigen. Die Verursacher müssen zahlen!“ Wir werden unsere Forderungen an die Regierung deutlich formulieren. Und zwei Wochen später, am 16. Mai, wird es in Berlin, Prag, Madrid und Brüssel Großdemonstrationen des Europäischen Gewerkschaftsbundes geben.

Spüren Sie in der Krise mehr Zulauf als zuvor in die Gewerkschaften?

Krisenzeiten waren für Gewerkschaften nie gute Zeiten. Wer arbeitslos wird, legt oft auch sein Gewerkschaftsbuch beiseite. Diesem Trend begegnen wir sehr offensiv. Bis jetzt durchaus erfolgreich. Gewerkschaften und Betriebsräte sind in den letzten Monaten zum anerkannten Teil der Krisenbewältigung geworden – vor Ort in den Betrieben und auch gegenüber der Regierung. Eines ist deutlich: Wir stehen wieder im Zentrum der politischen Debatte. Ob sich das im Organisationsgrad widerspiegeln wird, kann ich jetzt noch nicht absehen.

Die Verursacher der Krise nicht davonkommen zu lassen bedeutet auch, sie an der Finanzierung der Kosten zu beteiligen. Die SPD will dazu einen Steuerzuschlag für Reiche einführen. Das gefällt Ihnen doch sicher?

Wenn man ernsthaft diejenigen, die die Krise verursacht und vom Kasino-Kapitalismus profitiert haben, zur Kasse bitten will, dann ist der Zuschlag zur Einkommenssteuer für Besserverdienende symbolisch richtig, aber noch lange nicht ausreichend. Dafür braucht man eine andere Erbschaftsteuer, muss die Abgeltungssteuer abschaffen und man muss die Vermögensteuer wieder einführen.

Die Abgeltungssteuer von 25 Prozent auf Kapitalerträge ist von SPD-Finanzminister Peer Steinbrück als notwendig begründet worden, damit Kapital nicht aus Deutschland flüchtet.

Die Abgeltungssteuer ist ein Steuergeschenk an die Gewinner der Krise. Deren Renditen werden jetzt mit 25 Prozent versteuert und nicht mit dem fast immer höheren persönlichen Einkommenssteuersatz. Das muss sich ändern. Und es kann auch verändert werden, weil es spätestens mit den Regelungen zur Trockenlegung von Steueroasen keine Fluchtbewegung des angeblich „scheuen Rehs“ Kapital mehr aus Deutschland geben wird. Damit ist der Grund für die pauschale Abgeltungssteuer weggefallen und das gut genährte Reh kann durchaus wieder schlanker werden.

Reichen- und Abgeltungssteuer: Das klingt alles ein bisschen nach Rache.

Darum geht es nicht. Wir müssen klären, wer die Zeche bezahlen soll. Und da geht es ans Eingemachte des deutschen Steuersystems. Denn der Staat, der jetzt die Banken rettet, wird zu großen Teilen von den Arbeitnehmern und kleinen und mittleren Unternehmern finanziert. Schauen Sie sich den Verlauf des Einkommenssteuertarifs an, dann werden Sie sehen, dass schon Facharbeiter beinahe im Spitzensteuersatz liegen. Im Vergleich zu den Topverdienern ist das auf jeden Fall ungerecht. Ich denke daher, dass wir dringend eine Neujustierung brauchen. Und dazu gehört auch das Abtragen des sogenannten Mittelstandsbauches.

Das sagen FDP und Union auch. Die Frage ist jedoch: Wer soll das bezahlen, wenn die Krise zu massiven Steuerausfällen führt?

Gerade jetzt brauchen wir einen starken Staat. Steuersenkungen kommen daher für mich nicht in Frage. Aber Änderungen im System. Wenn Kleinverdiener weniger Steuern zahlen und mittlere Einkommen geringer besteuert werden, dann braucht man zur Finanzierung eine höhere Besteuerung der wirklich großen Einkommen. Und die Besitzer von Vermögen müssen zudem einen im Grundgesetz vorgesehenen Lastenausgleich leisten, um die Folgekosten der Krise finanzieren zu können. Und zwar über eine Anleihe, die sie zwingend kaufen müssen und die ihnen der Staat im Laufe von mehreren Jahren mit Zinsen zurückzahlt.

Sie sprechen von einer Zwangsanleihe?

Worum es mir geht, ist, die Vermögensbesitzer zur Finanzierung der Folgen der Krise heranzuziehen. Und zwar in einer gerechten Form. Ich will den Leuten nicht das Geld klauen. Aber ich will, dass sie sich mit ihrem Vermögen angemessen an der Bewältigung eines so großen gesellschaftlichen Problems beteiligen.

Im Herbst haben Sie eine moralische Aufarbeitung der Krise gefordert und die Politik ermahnt, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Gilt Ihre Forderung noch?

Selbstverständlich, damit werde ich die Akteure in Politik und Wirtschaft weiter nerven.

Arbeitet die Politik das auf?

Bis jetzt hat noch keine politische Partei die Frage erörtert, wie ihr Verhältnis zum Neoliberalismus ausgesehen hat. Da mache ich keine Ausnahme. Auch die SPD war vom Virus der Deregulierung und des Sozialabbaus infiziert.

Erwarten Sie gerade von der SPD ein Bekenntnis der Mitverantwortung?

Es geht nicht um Reue. Es geht sehr prinzipiell darum, dass Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit gezogen werden – und das gilt für alle politischen Kräfte. Dass dieser Prozess in Gang gekommen ist, konnten wir unter anderem beim Weltwirtschaftsgipfel sehen. Wie nachhaltig das ist, das wage ich jedoch noch nicht zu beurteilen. Klar ist: Es reicht nicht, allein die Manager für die Krise verantwortlich zu machen und jetzt für deren Vergütung ein paar neue Gesetze zu schaffen. Es geht darum, die Fehlentwicklungen in der Marktwirtschaft offenzulegen, die zu dieser Krise geführt haben. Danach müssen wir darangehen, weltweit geltende Regelungen für die Finanzmärkte und eine neue verbindliche Ordnung zu schaffen, die nachhaltiges, ökologisches und Beschäftigung schaffendes Wirtschaften in den Mittelpunkt stellt.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Stephan Haselberger. Das Foto machte: Doris Spiekermann-Klaas.

Zur Person:

POSTLER Michael Sommer arbeitete neben dem Studium an der FU Berlin bei der Post als Mitarbeiter in der Paket- und Eilzustellung. Thema seiner Diplomarbeit war die Privatisierung des Postpaketdienstes.

GEWERKSCHAFTER Der „studierte Malocher“ wurde in der Postgewerkschaft groß, war maßgeblich an der Gründung von Verdi beteiligt und ist seit 2002 Bundesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

FAMILIENMENSCH Michael Sommer lebt mit seiner Ehefrau und seiner Tochter im Südwesten Berlins. Entspannung findet der passionierte Hobbykoch vor allem bei klassischer Musik und beim Töpfern.

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