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Syrische Familie im Grenzdurchgangslager Friedland im Landkreis Göttingen.

© Swen Pförtner/dpa

Migration: Die Zuwanderungspolitik sollte auf Familien abzielen

Deutschland will künftig vor allem Fachkräfte einwandern lassen. Besser wäre es, gleich auf die zweite Generation zu setzen. Ein Essay.

Ein Essay von Ulrike Scheffer

Die CDU Nordrhein-Westfalen machte sich unrühmlich unsterblich, als sie im Jahr 2000 mit dem Slogan „Kinder statt Inder“ Wahlkampf machte. Ähnlich warb die AfD vor der Bundestagswahl 2017 für sich, als sie das Bild einer schwangeren Frau mit dem Text versah: „Neue Deutsche? Machen wir selber.“ Allein, es blieb bei den Sprüchen. Die demografischen Fakten sehen anders aus. Dass die Geburtenrate in Deutschland in den vergangenen Jahren leicht gestiegen ist, liegt vor allem an Müttern mit Migrationshintergrund. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hatte 2017 fast ein Viertel aller Neugeborenen eine Mutter, die selbst nicht in Deutschland zur Welt gekommen ist.

Eine neue Babyboomer-Generation wird es nicht geben. Die wäre aber nötig, um das demografische Gleichgewicht zu erhalten. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen wird Deutschland bis 2060 mehr als 20 Prozent seiner produktiven Bevölkerung verlieren. Der kanadische Migrationsforscher Daniel Hiebert, der seine eigene Regierung in Zuwanderungsfragen berät, prognostiziert der Bundesrepublik daher eine „harte Landung“, sollte nicht gegengesteuert werden. „Dann könnte irgendwann jemand sagen, ‚das war's Deutschland', und das Licht ausmachen.“ Sein Fazit: „Angesichts der dramatischen Alterung der Gesellschaft ist Migration der einzige Weg, mit dem demografischen Wandel umzugehen.“

Das geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das sich an der Einwanderungspolitik Kanadas orientiert, geht in die richtige Richtung. Die Erfahrungen in Kanada zeigen jedoch, dass auch gut qualifizierte Zuwanderer Jahre brauchen, um Fuß zu fassen. Zu viel sollte man sich von den neuen Zuwanderungsregeln also nicht versprechen. Zumal die Sprachbarriere in Deutschland deutlich höher ist als in englischsprachigen Staaten.

Eine offensive Integrationspolitik fehlte in der Vergangenheit

Erfolgversprechender wäre, die Zuwanderung von bildungsinteressierten Familien zu begünstigen und sich intensiv um die Integration der mitreisenden Kinder und Jugendlichen zu bemühen. Deutschland hätte dann die Möglichkeit, Fachkräfte nach eigenen Standards auszubilden und neue Bürger selbst zu prägen. Man könnte auch sagen: Neue Deutsche machen wir selbst. Ein Blick auf klassische Einwanderungsländer zeigt ohnehin: Erst die zweite Generation schafft es wirklich, in der neuen Heimat anzukommen und sich zu integrieren. In der Vergangenheit gelang in Deutschland oft nicht einmal das, weil eine offensive Integrationspolitik fehlte.

Das kanadische Statistikamt veröffentlichte Ende Dezember 2018 Daten zur Beschäftigungssituation von Einwanderern. Die hat sich in den vergangenen Jahren zwar verbessert. Dennoch war 2017 die Arbeitslosenquote unter Zuwanderern, die nicht länger als fünf Jahre im Land lebten, noch immer knapp doppelt so hoch wie unter gebürtigen Kanadiern. Einer der wichtigsten Gründe dafür sind mangelnde Sprachkenntnisse. Dabei ist Englisch weltweit die dominierende Fremdsprache. Die Zahl der Deutschlerner ging dagegen global bis vor wenigen Jahren dramatisch zurück, inzwischen soll der Abwärtstrend immerhin gestoppt sein.

Für Kanada gilt außerdem: Trotz eines ausgeklügelten Einwanderungsverfahrens erkennen viele Arbeitgeber die Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse von Zuwanderern schließlich doch nicht an, weil sie bezweifeln, dass die ausgewiesenen Qualifikationen heimischen Standards entsprechen. Diese Probleme dürften in Deutschland ebenfalls auftreten. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration schreibt in seiner Stellungnahme zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz, es gebe „in kaum einem Land der Welt ein System, das mit dem der deutschen dualen Ausbildung vergleichbar ist“. Erst bei Einwanderern, die zehn Jahre und länger im Land leben, so die Erkenntnis in Kanada, sinkt die Arbeitslosenquote in etwa auf das Niveau Einheimischer. Bei der zweiten Zuwanderergeneration lassen sich dann keine Unterschiede zu gebürtigen Kanadiern mehr feststellen.

Deutsche Asyl- und Zuwanderungspolitik steckt in einem Dilemma

Anders als Kanada kann Deutschland die Zuwanderung indes nur bedingt steuern. Kanada ist für Menschen aus ärmeren Weltregionen praktisch nicht zu erreichen. Europa dagegen liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Armuts- und Krisenregionen. Von dort werden sich absehbar weiterhin viele Menschen auf den Weg machen, und darunter auch zahlreiche, die weder vor Krieg oder Verfolgung fliehen noch zu den gesuchten Fachkräften zählen. Und wenn sie es nach Deutschland schaffen, werden sie wie gehabt Asyl beantragen, auch wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen gekommen sind. Verhindern lässt sich das nur, wenn Europa seine Grenzen abriegelt, was bisher allerdings nur unzureichend gelingt und auch künftig – wenn überhaupt – nur unter höchstem finanziellen und personellen Aufwand realisiert werden kann. Eine Entlastung des Asylsystems ist von den geplanten neuen Zuwanderungsregeln also nicht zu erwarten.

Die deutsche Asyl- und Zuwanderungspolitik steckt offenkundig in einem Dilemma: Deutschland wird kaum ausreichend geeignete Fachkräfte im Ausland finden, sieht sich aber gleichzeitig einem hohen Migrationsdruck von unqualifizierten Zuwanderern ausgesetzt. Ein Perspektivwechsel hin zu einer familienorientierten Zuwanderungspolitik könnte dieses Dilemma entschärfen. Qualifikation und Sprachkenntnisse der Eltern wären dann nicht die entscheidenden Zuzugskriterien, sondern vielmehr ihr Interesse an einer guten Ausbildung ihrer Kinder. Der Vorteil: Auch gering qualifizierten Auswanderungswilligen aus Europas Nachbarschaft – jene also, die ohnehin weiterhin nach Deutschland drängen werden – würden legale Migrationsmöglichkeiten eröffnet. Familien werden von der deutschen Bevölkerung zudem eher akzeptiert als Alleinreisende, und sie erhalten auch mehr Unterstützung aus der Gesellschaft.

Die Botschaft an die Bevölkerung der Herkunftsstaaten wäre klar: Statt Geld für junge Männer zusammenzulegen und diese auf die Reise nach Europa zu schicken, lohnt es sich eher, sich als Familie für die legale Einreise nach Deutschland zu bewerben. Ein Familien-Modell könnte also das Asylsystem entlasten und der Wirtschaft gleichzeitig potenziellen Fachkräftenachwuchs sichern.

Viele Schulabbrechern mit Migrationshintergrund

Funktionieren kann ein solches Zuwanderungssystem indes nur, wenn das deutsche Bildungssystem stärker auf die Integration von Zuwanderern ausgerichtet wird. In der Vergangenheit war das nicht der Fall. Entsprechend sind unter den Schulabbrechern besonders viele Jugendliche mit Migrationshintergrund. Volkswirtschaftlich ist das höchst bedenklich, und längst ist dies auch sicherheitspolitisch relevant. Es droht nicht nur das Abdriften in kriminelle Milieus. Die Soziologin Naika Foroutan vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung hat ein „gigantisches Integrationsdefizit“ gerade bei heranwachsenden Muslimen festgestellt. Diese fühlten sich abgelehnt, auch in der Schule, und suchten daher nach einer Identität „jenseits der nationalen Verortung“. Im Klartext: Sie sind anfällig für radikale Ideologien.

Schulen sind die einzigen staatlichen Institutionen, die direkt Einfluss auf die Prägung der Staatsbürger von morgen nehmen. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das gilt besonders, wenn es um die Erziehung und Bildung von Kindern aus bildungsfernen und patriarchalisch geprägten Familien geht. Doch Integration wird nicht durch mehr Tablets in Schulen gelingen, sondern durch bessere Förderprogramme und durch Lehrer, die neben der Vermittlung von Fachwissen Staatsbürgerkunde im besten Sinn des Wortes als ihre Aufgabe ansehen. Die Thematisierung demokratischer und westlich-liberaler Werte sowie sozialer Tugenden, die man durchaus auch als christliche Werte bezeichnen kann, muss mehr Raum erhalten. In der kanadischen Provinz British Columbia hat dies neuerdings sogar Vorrang vor der Wissensvermittlung.

Auch ein „Familieneinwanderungsgesetz“ wird nicht sämtliche mit der Zuwanderung verbundenen Probleme lösen können. Und es hat einen Preis: Bei der Integration der Elterngeneration wird man Kompromisse machen müssen. Das entspricht ohnehin der Realität im Alltag, ob in Deutschland, Frankreich, Schweden oder Kanada. Kritiker sprechen sogar von Parallelgesellschaften, weil einzelne Stadtviertel deutscher Großstädte von Sprache und Kultur bestimmter Herkunftsregionen geprägt sind.

Meist schafft erst die zweite Generation die Integration

Der britisch-kanadische Autor Doug Saunders sieht das anders: Er beschreibt klassische Einwandererviertel in seinem Buch „Arrival City“ (Ankunftsstadt) als eine Art Durchlauferhitzer und führt Beispiele aus 20 Städten weltweit an. Die Ankunftsstadt hilft demnach gerade geringqualifizierten Zuwanderern der ersten Generation, sich im neuen Heimatland zunächst einmal eine Existenz aufzubauen, beispielsweise durch ein eigenes Kleingewerbe oder durch Arbeitsmöglichkeiten bei Gewerbetreibenden unter früher Zugewanderten. Die zweite Generation schafft dann im Idealfall den Absprung aus der Ankunftsstadt und die Integration in der Mehrheitsgesellschaft – vorausgesetzt, sie findet in der Ankunftsstadt gute Schulen vor.

Selbst für Geringqualifizierte bieten sich in Deutschland übrigens mehr Arbeitsmöglichkeiten als gemeinhin angenommen. Der Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration verweist in der im Dezember 2018 veröffentlichten Studie zu möglichen legalen Migrationswegen für gering- und mittelqualifizierte Zuwanderer auf Engpässe bei Saisonarbeitskräften in Gastronomie, Baubranche und Landwirtschaft. Ein Einwanderungsmodell, das den Zuzug von Familien begünstigt, ohne besondere berufliche Qualifikationen der Eltern zur Bedingung zu machen, wird also nicht automatisch einen massenhaften Andrang auf das deutsche Sozialsystem zur Folge haben.

Doch wie ließe sich die Zuwanderung von bildungsinteressierten Familien in der Praxis organisieren? Denkbar wären regionale Kontingente in Verbindung mit einem Punktesystem, das Schulleistungen der Kinder oder bereits vorhandene Sprachkenntnisse berücksichtigt. Eltern sollten jedenfalls glaubhaft machen können, an einer guten Ausbildung für ihre Kinder interessiert zu sein. Interviews allein reichen dafür nicht, denn sie sind durchschaubar und damit leicht manipulierbar.

Entwicklungsländer leiden unter Braindrain

Interesse an Deutschland allgemein und an Bildungschancen im Besonderen lassen sich am besten belegen, wenn Eltern ihre Kinder schon im Herkunftsland Deutsch lernen lassen oder sie auf eine deutsche Auslandsschule schicken. Dies könnte ein wichtiges Kriterium für die Einreiseerlaubnis sein. Allerdings müsste das Angebot an Deutschkursen und die Zahl der deutschen Schulen in potenziellen Herkunftsstaaten deutlich ausgeweitet werden. Verbunden werden sollte das mit Stipendien und Internatsplätzen für einkommensschwache Familien.

Gegen eine reine Fachkräftezuwanderung aus Staaten jenseits der EU sprechen im Übrigen auch die Konsequenzen für die Herkunftsstaaten. Gerade Entwicklungsländer leiden unter dem sogenannten Braindrain, der Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Ärzte, Ingenieure oder Handwerker werden schließlich auch dort dringend gebraucht. Gehen sie weg, behindert das die Entwicklung eines Landes, was langfristig weitere Wanderungsbewegungen zur Folge haben kann. Ein Teufelskreis.

Ein Zuwanderungsmodell, das auf Familien abzielt, würde den Herkunftsstaaten deutlich weniger Nachteile bringen. Die Ausbildung der Fachkräfte würde dann im Zuwanderungsland, also in Deutschland, erfolgen und auch von diesem bezahlt. Möglicherweise werden sich junge Zuwanderer später sogar entscheiden, zeitweise oder ganz in das Heimatland der Eltern zurückzugehen, wo sie als Fachkräfte vermutlich hoch willkommen wären. Deutschland würde dann zwar Fachkräfte verlieren, hätte durch die Ausbildung aber sinnvolle Entwicklungshilfe geleistet.

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