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US-Generalstabschef Mark Milley äußerte wiederholt seine Zweifel.

© Foto: Reuters/Tom Brenner

Milleys unbequeme Wahrheit?: Der oberste US-Militär glaubt nicht an einen schnellen Sieg der Ukraine – und löst Ärger aus 

Der US-Generalstabschef sagt wiederholt öffentlich, was nur wenige in der US-Regierung und Kiew so explizit hören wollen. Er sieht die Zeit für Friedensverhandlungen gekommen.

Der Ärger über seine Worte aus der vergangenen Woche hatte sich in Kiew und auch in Teilen der US-Regierung noch nicht gelegt, da legte Mark Milley schon nach. Ein schneller militärischer Sieg der Ukraine sei nicht zu erwarten, erklärte der amerikanische Generalstabschef am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Deshalb sei nun ein guter Zeitpunkt auf politischem Wege eine Entscheidung zu suchen, durch Friedensverhandlungen.

So ähnlich hatte Milley das schon vor einigen Tagen gesagt und damit eine kleine diplomatische Krise zwischen Washington und Kiew ausgelöst. Nun gab der Generalstabschef seine Einschätzung, wenn auch mit mehr Kontext, sogar auf einer Pressekonferenz an der Seite des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zum Besten.

Anders als vor einer Woche auf einer Veranstaltung des Economic Club in New York versuchte der oberste Militär allerdings den Eindruck zu vermeiden, dass die USA die Regierung in Kiew zu Friedensverhandlungen mit Russland im Winter drängen würden.

Du willst zu einem Zeitpunkt verhandeln, in dem du stark und dein Gegner schwach ist.

US-Generalstabschef Mark Milley

„Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim (. . .), ist in absehbarer Zeit nicht hoch“, erklärte Milley etwas umständlich. Er begründete dies damit, dass die jüngst befreiten Gebiete – wie Cherson und Charkiw – im Vergleich zu der Herausforderung, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine vertreiben zu wollen, klein seien.

„Das wird nicht in den nächsten paar Wochen passieren, außer die russische Armee bricht komplett zusammen, was unwahrscheinlich ist“, sagte Milley, fügte aber noch hinzu, dass die Wahrscheinlichkeit eines russischen Siegs über die Ukraine „gegen null geht“.

Milley war am Mittwoch auch merklich darauf aus, die Wogen zu glätten, die er knapp eine Woche zuvor ausgelöst hatte. Die USA würden „die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig ist, um sie zu befreien“, sagte er und stellte klar, dass es „an der Ukraine liegt, wie und wann sie mit Russland verhandeln will“. Ähnlich äußerte sich daraufhin auch Verteidigungsminister Austin.

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Russland sei am Boden, das Militär leide gewaltig, sagte Milley weiter. Deshalb sei es der ideale Zeitpunkt für Verhandlungen. Denn: „Du willst zu einem Zeitpunkt verhandeln, in dem du stark und dein Gegner schwach ist.“

So pessimistisch und hart die Aussagen Milleys insgesamt klingen: Sind sie die unbequeme Wahrheit über den Krieg oder ein unnötiger Affront gegenüber der ukrainischen Regierung, die die Rückeroberung des gesamten Staatsgebiets als Ziel ausgegeben hat?

Vor einer Woche hatte der US-Generalstabschef zudem noch auf eine historische Lektion aus dem ersten Weltkrieg verwiesen, als verweigerte Verhandlungen der Kriegsparteien zu Millionen von zusätzlichen Toten führten. „Man muss den Augenblick nutzen“, sagte Milley. Er sprach von bisher rund 100.000 toten und verletzten Soldaten auch auf Seiten der Ukrainer. Eine Zahl, die Kiew umgehend dementierte.

Die Wiederholung seiner Worte – auch wenn sie in etwas mehr Kontext verpackt waren – kommt aus mehreren Gründe überraschend. Zum einen hatte der ukrainische Oberkommandeur Walerij Saluschnyj Milley in einem Telefonat am Montag gesagt, dass Kiew bei der Befreiung des Landes von der russischen Besatzung keine Kompromisse akzeptieren werde. „Es gibt nur eine Bedingung für Verhandlungen: Russland muss alle besetzten Gebiete verlassen“, schrieb Saluschnyj nach dem Telefonat auf Telegram.

Zum anderen hatten mehrere Offizielle aus dem Umfeld der US-Regierung nach Milleys ersten Aussagen befürchtet, dass diese die Einigkeit des Westens in einem Schlüsselmoment des Kriegs infrage stellen könnten, schreibt die US-Nachrichtenseite „Politico“. Der Zeitpunkt ist tatsächlich auch deshalb ungünstig, weil die Ukrainer unlängst mit der Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Cherson einen großen Zwischenerfolg erzielt hatten.

Anfang der Woche hatte auch ein Treffen von CIA-Chef Bill Burns mit dem Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, für Verwunderung gesorgt. Allerdings stellte die US-Regierung schnell klar, dass es explizit nicht um Friedensverhandlungen gegangen sein soll, sondern ausschließlich um eine Deeskalation aufgrund der russischen Atomdrohungen.

Milleys Worte hingegen sind ein neues Kapitel in einer Situation, die ein US-Regierungsoffizieller „eine Live-Diskussion im Weißen Haus“ nennt, wie „Politico“ schreibt. Demnach gibt es innerhalb der Regierung verschiedene Lager. Im Verteidigungsministerium scheinen Milleys Ansichten noch auf den meisten Zuspruch zu treffen. Andererseits hätte sich Minister Austin wohl auch nicht auf einer Pressekonferenz neben Milley gestellt.

Das Lager, das mögliche Verhandlungen am kritischsten sieht, ist dem „Politico“-Bericht zufolge der Nationale Sicherheitsrat – dem neben US-Präsident Joe Biden verschiedenste Minister und außenpolitische Berater angehören. Der Top-Berater des Rates, Jake Sullivan, argumentiert, dass Russlands Präsident Wladimir Putin etwaige Verhandlungen weiterhin nicht ernst nehmen würde – und die ukrainische Bevölkerung wiederum jegliche Art von ukrainischem Zugeständnis zurückweisen würde.

Keine konkreten US-Vorbereitungen auf Verhandlungen

Dazu passt die Aussage der Pentagon-Sprecherin vom vergangenen Freitag: „Der Präsident und auch der Minister haben gesagt, dass wir das Ende des Kriegs in diplomatischen Gesprächen sehen. Aber, zum wiederholten Male, wir glauben nicht, dass Russland derzeit dazu bereit ist.“ Zweifel hat demnach auch Austin. Deshalb, das erfuhr „Politico“ aus US-Regierungskreisen, gebe es auch keine konkreten Vorbereitungen für den Beginn möglicher Verhandlungen in den kommenden Wochen.

Der ukrainische Verteidigungsminister geht zwar ebenfalls davon aus, dass das Kampfgeschehen im Winter zurückgeht. Allerdings sieht er darin keine Möglichkeit zum Verhandeln, sondern vielmehr als Ruhe vor dem Sturm auf dem Schlachtfeld.

„Das ist für alle Seiten von Vorteil. Man wird sich ausruhen können“, sagte Oleksij Resnikow der Nachrichtenagentur Reuters. Sein Land werde gestärkt aus dieser Pause hervorgehen angesichts von Tausenden von Soldaten, die gegenwärtig in Großbritannien ausgebildet werden.

Die Ukraine braucht noch mehr solcher Siege wie in den vergangenen Wochen, bevor Verhandlungen beginnen können.

Militärexperte Mick Ryan

Es gibt sogar Experten wie den ehemaligen US-Generalleutnant Ben Hodges, die der Ansicht Milleys noch weitgehender widersprechen. Hodges geht vielmehr davon aus, dass es gar keine Kampfpause geben wird: Das Geschehen würde sich zwar verlangsamen, doch dürfte es den Ukrainern möglich sein, den Druck auf die ausgedünnten russischen Truppen aufrechtzuerhalten.

Bis zum Sommer könnten die Ukrainer sämtliche Angreifer von ihrem Territorium verdrängt haben, sagt Hodges. Bereits im Januar seien könnten sie in der Lage sein, einen Gegenangriff auf die von Russland einverleibte Halbinsel Krim zu starten.

„Die Leute sollten sich an den Gedanken gewöhnen, dass die Ukraine Russland auf dem herkömmlichen Weg, auf dem Schlachtfeld, besiegt. Ihr Momentum ist unumkehrbar“, sagt Hodges.

Auch der ehemalige australische General Mick Ryan widerspricht Milley. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärte Ryan, dass sich „die Russen nicht wie Besiegte fühlen“. Solange das so sei, werde Russland seine Angriffe nicht einstellen. „Die Ukraine braucht noch mehr solcher Siege wie in den vergangenen Wochen, bevor Verhandlungen beginnen können“, sagte Ryan.

Der Zeitpunkt für Verhandlungen sei für ihn dann gekommen, wenn Russland die weiße Flagge hisse und bereit sei, sich aus allen ukrainischen Gebieten zurückzuziehen – inklusive der Krim. Damit liegt er auf Linie mit der ukrainischen Regierung. Aus Ryans Sicht gebe es auch keine Gebiete, die nicht militärisch zurückerobert werden könnten. Wenn jemand das gedacht habe, „beweisen die Ukrainer doch gerade das Gegenteil“. (Mitarbeit: Benjamin Hirsch)

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