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Misstrauensvotum in Italien: Silvio Berlusconi - Bella Figura

Die meisten Italiener sind zufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Lage. Das macht sie gleichmütig – auch gegenüber Silvio Berlusconi und dem Misstrauensvotum am Dienstag.

Es war der erste Freitag im Dezember, kurz nach zehn Uhr vormittags, als in der Viale David Lubin 2 im Park der Villa Borghese der grauhaarige Giuseppe Roma vor marmorner Wand Platz nahm und durch eine randlose Brille auf Zettel blickte, deren Inhalt er vorzutragen hatte. Es war die Zusammenfassung des 44. Berichts zur Lage der Nation.

Roma, Jahrgang 1949, ist seit 1993 Generaldirektor der Censis Foundation, einer Stiftung, die seit mehreren Jahrzehnten die Befindlichkeiten des italienischen Volkes untersucht. Und an diesem Freitagmorgen nun fasste er zusammen, was dem Rest der Welt zunehmend unerklärlich wird. Den Grund für die Geduld der 60 Millionen Italiener mit ihrem vornehmlich noch als Scherzartikel wahrgenommenen Regierungschef.

Dass „noch nicht einmal die Ungeduldigsten zu einer geistigen Auflehnung drängen“, wie Roma es formuliert, liegt also daran, dass – Krise hin oder her – eine knappe Mehrheit von 56 Prozent der Italiener mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden ist. Also keinen Grund sieht, am Drumherum etwas zu ändern.

Und vielleicht ändert sich ja auch nichts. Auch wenn sich Regierungschef SilvioBerlusconi, außerdem Medienzar und Milliardär, inzwischen 74 Jahre alt, am Dienstag einem Misstrauensantrag stellen muss. Nach dem Bruch mit seinem früheren Verbündeten Gianfranco Fini verfügt die Regierung im Abgeordnetenhaus nicht länger über eine Mehrheit. Wie das Misstrauensvotum ausgeht, ist ungewiss. Das hängt von wenigen Abgeordneten ab. Aber es sieht nicht aus, als würde Berlusconi deren Entscheidung ergeben abwarten. Vielmehr ließ er offenbar Anhänger mit dem geöffneten Portemonnaie herumgehen. Zwei Abgeordnete der oppositionellen „Werte“-Partei von Antonio Di Pietro, dessen einziges politisches Projekt bisher der Kampf gegen Berlusconi war, wollen ihm plötzlich jedenfalls doch das Vertrauen aussprechen.

Antonio Razzi, einer der beiden, hatte im September schon geplaudert: „Da sind fünf, sechs aus der Regierungspartei zu mir gekommen. Sie haben mir einen sicheren Listenposten für die Wiederwahl ins Parlament angeboten. Und als ich ihnen sagte, ich hätte mir ein Haus gekauft und einen Kredit von 150 000 Euro abzuzahlen, sagten sie mir: ,Wo ist das Problem? Das übernehmen wir.’“

Ob man etwa den so oft wiederauferstandenen affärenbelasteten, großmäuligen Regierungschef womöglich auch diesmal nicht los werde, fragen die Leitartikler der Zeitungen. Und auch wenn ihm das Misstrauen ausgesprochen wird, dann wäre sein Rücktritt wohl unvermeidbar, aber nicht unbedingt auch sein politisches Ende. Und was wird aus dem „System des Berlusconismus“? Aus dem „Drumherum“?

In den vergangenen Jahren ist das Unrecht in alle Lebensbereiche vorgedrungen: Bestechung, Steuerhinterziehung, Selbstbedienung, Seilschaften sind verbreiteter als je. Mittlerweile sehen sich – wie sogar schon der Parteifreund Berlusconis und frühere Innenminister Giuseppe Pisanu kritisiert – Menschen in Norditalien mit einem Phänomen konfrontiert, das sie früher einzig einem verkommenen Mezzogiorno zugeschrieben hätten: mit der Mafia. In Desio, gleich neben Mailand, ist die Stadtregierung wegen ihrer Verstrickungen mit der kalabrischen ’Ndrangheta aufgelöst worden. Und in Bozen, Südtirol, mussten die Carabinieri einen Oberstleutnant verhaften, weil er den Kokainimport der ’Ndrangheta aus Kolumbien gegen Zugriffe der Polizei abgeschirmt hat.

„Endlich ein ehrliches Italien!“, war denn auch ein aus vielen Herzen stammender Flehruf, den am Wochenende die Opposition zum Slogan ihrer Demonstration machte. Zehntausende sollen am späten Sonnabend auf dem Platz vor der Lateranbasilika in Rom gewesen sein, eingeladen von der Oppositionspartei PD (Demokratische Partei) und von der angeblich auch in die Hauptstadt gekarrt. „Wir müssen einen Schlussstrich unter die Ära Berlusconi ziehen“, ruft Parteichef Pierluigi Bersani in die Menge, „sonst warten wir noch ein Jahrtausend!“ Und die Tausenden schreien zurück: „Schande, Schande, Schande!“

Die Italiener haben die Personalisierung der Politik, die Zuspitzung auf den „Leaderismus“ und das „Charisma“ einer einzigen Figur gründlich satt. Das las auch Giuseppe Roma aus seiner noch druckfeuchten Jahresstudie ab. Drei Viertel der Befragten lehnen nach 16 Jahren Erfahrung Berlusconis Führungsstil ab, der sich als ungeeignet zur Lösung der Probleme des Landes erwiesen habe. Zu viele folgenlose Ankündigungen, zu viele Werbespots, zu viele leere Versprechen.

Nur eins hat gehalten. „Euer Geld ist sicher“, sagt Berlusconi seinen Landsleuten pausenlos: „In Italien gibt es keine Bankenkrise, keine Aktienblase.“ Tatsächlich ist Italiens Wirtschaft nicht schlechter durch die Krise gekommen als die deutsche, doch jetzt findet sie keinen neuen Schwung. 574 000 Jobs sind verloren gegangen und bleiben wohl verloren. Eine große Mehrheit von 83 Prozent, so sagt das Statistische Zentralamt, empfindet die wirtschaftliche Krise als schwerwiegend, 69 Prozent – dieser Anteil ist seit einem Jahr gar um zwölf Punkte gewachsen – haben keine Hoffnung, dass sie innerhalb der nächsten vier Jahre verschwindet.

Als Berlusconi im Mai 2008 die zerfallene Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi beerbte, hatte er die größte parlamentarische Mehrheit hinter sich, die der Wähler und ein trickreich geschneidertes Wahlgesetz jemals einem italienischen Ministerpräsidenten beschert hatten. Heute, sagt selbst Berlusconis früherer Innenminister Pisanu, „läuft Italien Gefahr, in die Zweite Liga abzusteigen“. Dass der Regierungschef damit den „Pakt mit den Wählern“ verletzt habe, so weit geht Pisanu nicht; das lasten Berlusconi und die Seinen jenen „Verrätern“ um Fini an, die „in Umstürzung des Volkswillens“ den Regierungschef in die Wüste schicken wollten. Aber die Diagnose zur Lage der Nation, das zeigen Pisanus Äußerungen, ist sogar in der Regierungspartei eindeutig.

Normalerweise legen die Forscher von Censis ihr Augenmerk auf die wirtschaftlich-soziale Entwicklung. Diesmal erfragten sie eine moralische Bilanz der Herrschaft Berlusconis und ihrer Vorbildwirkung für Italien. Und bei der Präsentation sprachen sie von einem „Land ohne Gesetz“, von zerstörter Autorität und demontierten Werten, von „narzisstischem Egoismus“, von einem „gefährlichen sozialen Vakuum“. Der vom Fernsehen angestachelte Konsumismus habe schon die Kinder aller „Wünsche und Sehnsüchte“ beraubt. Platt sei Italien geworden, resümierte Censischef Roma, „ein Fußballfeld, aus dem sich die Tore so wenig hervorheben, dass man nicht weiß, wohin man den Ball schießen soll“.

Dass die Italiener genug haben, zeigt sich auch an ihrer Lieblingsbeschäftigung: am Fernsehen. Am auffälligsten zappen sich die Zuschauer von jenen Programmen weg, die die Welt im strahlenden Lichte Berlusconis darstellen: vom ersten Programm des Staatsfernsehens „RAI“ und vom „Canale 5“, dem Flaggschiff aus Berlusconis Privatimperium Mediaset. Dafür feiert das als links geschmähte, aber praktisch als einziges nicht gleichgeschaltete Programm „RAI 3“ einen Publikumserfolg wie sonst nur die Fußballweltmeisterschaft: In der geradezu spartanisch aufgemachten Live-Talkshow „Komm weg mit mir“, deren Hauptperson der ruhige, fast schüchterne Anti-Camorra-Autor Roberto Saviano war, lasen ernste Personen ihre Manifeste für ein moralisch besseres, berlusconifreies Italien ab. Die Rache des Establishments folgte. Weil die Reihe eine ihrer vier Sendungen um zweieinhalb Minuten überzog, wurde der Programmdirektor für 15 Tage beurlaubt. Und auch da: kein Protestgeschrei. Die meisten Italiener sind träge geworden. Eingelullt. Abgetaucht. Ihren Unwillen bezeugen sie mit der Fernbedienung, gucken eben woanders hin.

Dabei gibt es durchaus Demonstrationen in Italien. Nun schon seit Wochen protestieren die Studenten gegen das neue Hochschulgesetz, von dem sie sich ihrer Studien- und Zukunftschancen beraubt sehen. Sie protestieren in vielen Städten landauf, landab. Aber nicht mit der ungeheuren, auch brutalen Wut wie in London. Ungewöhnlich brav besetzen Italiens Jungakademiker den Schiefen Turm in Pisa, hängen Transparente an den Markusdom in Venedig oder werfen Müllsäcke, von denen in Neapel ohnehin einige Millionen herumliegen, manchmal zünden sie auch welche an. In Roms Innenstadt ist unter den studentischen Spontanaktionen einmal der Verkehr kollabiert, aber das passiert auch so. Doch es hat sich diesen Protesten niemand angeschlossen. Ein Volksaufstand gegen die Regierung oder gegen Berlusconi ist bisher immer wieder ausgeblieben.

Die Italiener lesen in diesen Tagen Plakate, auf denen sich die Regierung rühmt, „29 der 30 gefährlichsten Mafiabosse gefasst“ zu haben; sie lernen dabei auch, dass nicht mal dieser von keinem bestrittene Erfolg zur Eindämmung der Mafia nicht reicht. Die Gesellschaft hat nicht genug Antikörper.

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