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Politik: Mit Lug und Recht

Von Ursula Weidenfeld

Getroffen hat es alle. Die posttotalitären Gesellschaften Mitteleuropas sind enttäuscht über das, was Marktwirtschaft und Demokratie, Meinungsfreiheit und Konsumentensouveränität gebracht haben. Die Ungarn gehen in diesen Tagen gegen das Eingeständnis der politischen Lügen ihres Regierungschefs auf die Straße. Polen ist gelähmt durch Amtsgeschacher und rechten Populismus. Und viele Ostdeutsche verachten das Berliner Alltagsgeschäft und richten sich, ein bisschen desillusioniert, ein bisschen frustriert, halt so ein. Ist das eine allgemeine Krise der Demokratie? Niemand wünscht im Ernst eine andere Staatsform. Die Freiheit ist ein Gut, das allgemein geschätzt und genutzt wird. Und den meisten Menschen geht es deutlich besser als früher. Auch ist es ein Zeichen eines gesunden Verständnisses von Wahrheit und Klarheit, dass man die politische Lüge als solche erkennt und darauf reagiert.

Daraus aber zu schließen, dass es keine fundamentalen Probleme gibt, wäre auch falsch. Wenn sich in Deutschland der Vizekanzler kopfschüttelnd darüber amüsiert, dass es doch tatsächlich noch Menschen gebe, die im Wahlkampf gemachte Versprechen ernst nehmen, dann gibt es zwar keinen Aufstand, die Menschen gehen nicht auf die Straße und sie werfen nicht mit Steinen. Aber die Meinungsforscher bemerken in ihren Umfragen, dass die Kluft zwischen „denen da oben“ und „denen im echten Leben“ noch größer wird.

Ob es der Kampf um die Gesundheitsreform oder die Generalüberholung der Hartz-Reformen ist – wie soll man als Außenstehender etwas beurteilen, gut oder schlecht finden, das sich inzwischen jedem vernünftigen Urteil entzieht? Der politische Diskurs entfernt sich immer weiter von denen, die er betrifft. Das hat weniger damit zu tun, dass die politischen Aufgaben tatsächlich komplex und schwierig sind. Vielmehr haben sich die politischen Eliten mehr und mehr von ihren Wählern abgesondert, sich in Ausschüssen und Gremien verkrochen und eigene Codes gefunden, um sich untereinander zu verständigen. Politische Inhalte und demokratische Überzeugungen werden überlagert von regionalpolitisch motivierten Winkelzügen, unterminiert vom Einfluss der Interessengruppen, korrumpiert vom Bedürfnis, an der Macht zu bleiben. Da ist es kein Wunder, wenn sich Verdruss breitmacht. Erst recht dann, wenn der Wähler bewusst für dumm verkauft und mit einfachen Scheingewissheiten abgespeist wird. Ohne jedes Unrechtsbewusstsein sind in den Wahlkämpfen Polens, Ungarns und Deutschlands Dinge versprochen worden, bei denen es noch nicht einmal die Ursprungsabsicht gab, sie zu halten.

Darin offenbart sich die tatsächliche Krise der Demokratie: Man nimmt den Souverän, den Wähler nicht mehr ernst. Dass das bei denjenigen, die für die Demokratie die größten Risiken eingegangen sind, besonders schlecht ankommt, liegt auf der Hand. Nur noch ein Viertel der Ostdeutschen ist mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. In Westdeutschland ist es immerhin noch jeder Zweite. Dass die Wähler selbst es in der Hand haben, mehr Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit zu erzwingen, sollte ihnen allerdings nicht ausgerechnet die NPD beibringen. Politische Sachzwänge verlangen in einer Demokratie politischen Mut und Handlungsfähigkeit. Lügen verlangen sie nicht. Vielleicht ist es 16 Jahre nach der deutschen Einheit der richtige Zeitpunkt, daran zu erinnern.

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