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Begegnung mit dem Volk. Bundespräsident Wulff, hier bei den Einheitsfeiern 2010 in Bremen, will die Politikverdrossenheit vieler Bürger aufbrechen.

© picture alliance / dpa

Mitbestimmung: Bürger 2.0

Der Bundespräsident lässt 1000 Deutsche im Internet über Demokratie diskutieren. Ihre Vorstellungen sind überraschend konkret.

Von Antje Sirleschtov

Berlin - Befragt man die Deutschen nach ihrer Meinung über das Parteiensystem und zu den Leistungen der von ihnen gewählten Politiker, dann ist das Ergebnis oft ernüchternd. Wie durch eine Mauer getrennt scheinen die Vorstellungen der Bürger über ihre Gesellschaft einerseits und die Entscheidungen von Regierungen und Parlamenten auf der anderen Seite.

Kein Geringerer als Christian Wulff, der Bundespräsident, will diese Mauer nun abtragen. Seit Monaten debattieren rund 1000 sorgfältig nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand ausgesuchte Bürger aus 25 Städten und Landkreisen quer durch die Republik im Internet über Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Integration. Anfang Januar hatte Wulff das „Bürgerforum 2011“ ins Leben gerufen. Statt sich entnervt von der Parteiendemokratie abzuwenden oder in öffentlichen Protesten gegen die Entscheidungen der Politiker nur zu demonstrieren, sollten die Bürger eine eigene politische Agenda zusammentragen. Ende Mai will Wulff das aus der Diskussion entstandene „Bürgerprogramm“ entgegennehmen. Doch schon jetzt ist ziemlich klar, was der Bürger will, wenn man ihn fragt.

Zunächst einmal will er mitreden und mitentscheiden. Und zwar auf allen Ebenen, von der Gemeinde bis hin zum Bund. Ob in Städten oder ländlichen Regionen, Nord, Süd, Ost oder West: Beinahe einhellig fordern die Bürger niedrigere Schwellen für Volksentscheide. Bei „allen die Gesellschaft betreffenden Themen“, formulieren es die Teilnehmer etwa des Wartburgkreises in Thüringen. Doch dies genügt den Bürgern noch nicht. Aus ihren Programmen spricht ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Volksvertretern, die sie regelmäßig in Parlamente wählen, damit dort ihre Interessen vertreten werden. Weil das aber offenbar nicht funktioniert, wollen die Bürger das fortan in die eigenen Hände nehmen. Regionale Bürgerausschüsse sollen über alle politischen Pläne informiert werden, diese Informationen im Internet mit den betroffenen Bürgern diskutieren und deren Voten entgegennehmen. Wenn die Parlamente dann entscheiden, sollen die Bürgerausschüsse Mitspracherechte erhalten.

Übrigens auch auf Bundesebene. Im Bundestag, heißt es in Brandenburg, sollen nicht nur politische Parteien sondern auch Kirchenvertreter, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen Sitz und Stimme bekommen. „Echte Bürgerbeteiligung“ nennen sie das. Den politischen Parteien soll außerdem „per Gesetz“ verboten werden, in Wahlkampfzeiten politische Versprechungen zu machen.

Doch nicht nur im demokratischen Mitbestimmungsprozess haben die Bürger klare Vorstellungen. Auch was die politischen Inhalte betrifft, gibt es deutliche Präferenzen. Zunächst der Bereich Bildung: Kostenlos soll sie sein, und zwar von der Ganztagskita bis hinauf zum Universitätsstudium. Kleinere Klassen, mehr Lehrer und Sozialarbeiter und bundesweit einheitlich geregelt. „Weg mit dem Bildungsföderalismus“ ist deutschlandweit Mehrheitsforderung. Die Bürger wollen bundesweit einheitlich geregelte Standards und ebensolche Lehrpläne. Was gelernt wird, soll eine nationale Bildungskommission festlegen. Die Bürger in Niedersachsen fordern sogar, dass „alle Landeskultusministerien aufgelöst werden“.

Auch beim Thema Solidarität und Gerechtigkeit herrscht breite Übereinstimmung. Allenfalls im Detail gibt es Unterschiede. Wenn es um Löhne und soziale Sicherheit geht, fordert Deutschland die Einführung von Mindestlöhnen, die so hoch sind, dass niemand mehr zusätzliche Sozialleistungen in Anspruch nehmen muss. Auch die Einführung von bedingungslosen Grundeinkommen findet Unterstützung. Außerdem sollen Leiharbeit und Minijobs auf ein  Minimum reduziert und besser bezahlt werden. In ein solidarisches Gesundheitssystem – es soll Versicherungszwang herrschen – sollen alle Versicherten ihrem Einkommen entsprechend einzahlen. Systemwechsel finden im Bürgerforum überhaupt nicht statt.

Für Familienpolitik wollen die Bürger mehr Geld ausgeben. Steuerliche Anreize für Familien, auch beim Eigenheimbau, sollen ausgebaut werden, Erziehungs- und Pflegezeiten besser bezahlt und bei der Rente besser angerechnet werden. Höheres Kindergeld? Selbstverständlich. Ein „Muttergehalt“? Auch das. Wer sich in seiner Freizeit sozial engagiert, soll zusätzliche Rentenansprüche erwerben. Mindestrente darf es künftig nicht mehr geben. Jeder Rentner soll mehr Geld erhalten.

Woher dieses Geld genommen, bei wem es eingespart werden soll, darüber findet im Bürgerforum so gut wie keine Debatte statt. Lediglich von einem „gerechteren“ Steuersystem ist zuweilen die Rede. Und davon, dass Manager zu hohe Gehälter und Extra-Boni bekommen, die man per Gesetz begrenzen und die überschüssigen Beträge zur Finanzierung von Sozialeinrichtungen nutzen soll.

Ende Mai will der Bundespräsident das Bürgerprogramm aus der Hand seiner Schöpfer entgegennehmen. Wie und vor allem mit wem der Bundespräsident allerdings in diesem Sommer für die Abschaffung des Bildungsföderalismus und die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne streiten will, diese Frage ist noch unbeantwortet.

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