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Politik: Mittags nur ein Sandwich

Jeder sechste Brite arbeitet mehr als 60 Wochenstunden – aber die Gewerkschaften suchen den Anschluss an EU-Standards

Von Matthias Thibaut, London

Die Briten liegen in der Produktivitätsskala weit hinter Vergleichsländern wie Deutschland und den USA. Aber an mangelndem Fleiß liegt es nicht. Wie eine vom britischen Handels- und Industrieministerium zusammen mit dem Magazin „Management Today" durchgeführte Untersuchung ergibt, ist die Zahl der Überstunden weiter angestiegen. Mittlerweile arbeitet jeder sechste Brite über 60 Wochenstunden. In London, wo die Mehrzahl im Dienstleistungsgewerbe arbeitet, schiebt man im Durchschnitt zwölf Überstunden pro Woche.

Trotz des schwachen Wirtschaftswachstums und der europäischen Arbeitszeit-Direktive, die eine Begrenzung der Überstunden vorsieht, ist die Zahl der Überfleißigen in den letzten zwei Jahren noch einmal gestiegen. Vor zwei Jahren kam nur jeder achte über die 60-Stunden-Grenze. bei den Frauen hat sich die Zahl derer, die über 60 Stunden kommen, sogar verdoppelt. Auch die „work-life-balance"-Kampagne der Regierung konnte die Briten nicht zu einer gelasseneren Gangart bewegen.

Dabei geht es keineswegs um bezahlte Überstunden. Nur ein Drittel der Arbeitswütigen erhält für die Mehrarbeit Bezahlung. Es ist die angelsächsische Arbeitskultur, die sich in den Thatcher-Jahren fest etablierte und die Menschen im Büro festhält. Thatchers „Yuppies" erschienen schon um 7 Uhr morgens mit Begeisterung bei der Arbeit. Nun sind sie zwar ausgestorben, aber noch immer wird schief angesehen, wer morgens ein bisschen später ins Büro kommt oder etwa abends pünktlich das Büro verlassen will. Die Mittagspause wird mit einem Sandwich verbracht – am Schreibtisch.

Als die Regierung von Tony Blair nach langem Winden die EU-Arbeitszeitregelung übernahm, handelte sie eine Sonderregelung aus. Bis Herbst 2003 dürfen Arbeiter und Angestellte auf „freiwilliger Basis" die Arbeitszeitbegrenzung auf 48 Stunden ignorieren. So fand der Chef der Gewerkschaft TUC, John Monks, das Wehklagen der Regierung über die Arbeitswut der Briten auch etwas heuchlerisch: „Mit einem Federstrich könnte Großbritannien die gleichen Regelungen wie der Rest Europas haben."

Die Briten sind zwischen angelsächsischem Leistungsdenken und europäischer Spaßgesellschaft hin und hergerissen. So entdeckte das Mori-Sozialinstitut als neuen soziologischen Leittypus den „Meldrew". Der Held der TV-Komödie „One Foot in the Grave" gibt einer neuen Generation der Unzufriedenen den n, 34- bis 55-Jährige, die mitten im Arbeitsleben stehen, mit einer von Stress und unsicheren Erwartungen bestimmten Lebensperspektive. „Sie fangen an zu fragen, warum sie eigentlich so hart arbeiten", erläutert Mori-Sozialforscher Ben Page. Eine Umfrage des Forschungsinstituts „YouGov“ ergab gleichzeitig, dass 54 Prozent der Briten gerne auswandern würden – am liebsten in Länder mit besserem „work-life"- Gleichgewicht. Frankreich und Spanien haben Amerika und Australien als Traumziel abgelöst.

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