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Politik: Mitten in Deutschland

Von Gerd Appenzeller

Im Herbst 2006 wird ein neuer Bundestag gewählt. So lange will Angela Merkel nicht warten, bis sie endlich aktiv Politik gestalten kann. Gerade jetzt bedient sie sich auf europäischer Ebene des Netzwerks der christlichen und konservativen Parteien, um Einfluss auszuüben. Sie tut es mit einer bemerkenswerten Initiative. Deren Ziel ist, die Aufnahme von EUBeitrittsverhandlungen mit der Türkei zu verhindern.

Am 6. Oktober will die EU-Kommission ihre Empfehlung für das weitere Vorgehen aussprechen. Im Dezember wird sich der Europäische Rat in Brüssel entscheiden – bietet er der Türkei dann Beitrittsgespräche an? Seit fünf Jahren hat das Land Kandidatenstatus, seit vier Jahrzehnten wird die Annäherung an die Europäische Union versprochen. Wenn Merkel, wenn CDU und CSU den entscheidenden Schritt verhindern wollen, müssen sie aktiv werden.

Aber warum gerade in dieser Woche? Es gibt eine nahe liegende Erklärung, die Merkel aber vermutlich mit aller Entschiedenheit zurückweisen würde. Am Sonntag werden in Sachsen und Brandenburg neue Landtage gewählt. In beiden Ländern steht es für die CDU nicht wirklich gut. In beiden Ländern könnten rechtsextreme, ausländerfeindliche Parteien deutlich mehr als fünf Prozent erreichen. Da käme für potenzielle Rechtsabweichler unter den Wählern das Signal gerade noch rechtzeitig, dass selbstverständlich auch die CDU etwas dagegen tut, dass noch mehr Ausländer Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen.

Weder in Brandenburg noch in Sachsen gibt es viele Türken. Und Arbeitsplätze, die sie den Deutschen wegnehmen, gibt es auch nicht. Aber in diesem Wahlkampf interessieren Fakten weniger als Stimmungen. DVU und NPD bedienen ganz einfach Feindbilder. Vielleicht meint Merkel deshalb wirklich, dass sie mit einer Anti-Türkei-Initiative in das Dreieck „Nicht wählen – Braun wählen – CDU wählen“, noch Bewegung bringen kann. Wenn es klappt, hätte sie auf dem Wege über die Außenpolitik erfolgreich Innenpolitik gemacht.

Erfolgreich? Vielleicht in Brandenburg und Sachsen. Auf europäischer Ebene hingegen findet sie selbst im Kreise der Konservativen wenig Mitstreiter. Ihre Initiative sei verdienstvoll, komme aber zu spät, heißt es da. Nicht nur in der Kommission, sondern unter den Staats- und Regierungschefs überwiegt die Zahl der Befürworter von Beitrittsgesprächen. Deshalb kommt Merkels Vorstoß aber auch wiederum zu früh. Denn um einen EU-Beitritt der Türkei jetzt geht es überhaupt nicht. Die Politik denkt in anderen Zeiträumen. Von 15 Jahren ist da die Rede. In anderthalb Jahrzehnten jedoch können sich Länder völlig verändern. Das haben wir bei den einstigen Beitrittskandidaten Griechenland, Portugal und Spanien erlebt, deren patriarchalisch organisierte Gesellschaften sich innerhalb weniger Jahre zu offenen Systemen mit gleichen Rechten für Frauen und Männer entwickelten. Und das türkische Reformtempo ist atemberaubend.

Alles das ist aber zweitrangig. Denn ob die Türkei in Europa ankommt, ob die Türken von den Europäern als Europäer begriffen werden, entscheiden zu allererst nicht die Türken in der Türkei, sondern die Türken, die hier, unter uns, leben. Wie sie leben, hängt von ihnen ab, davon, wie viel Offenheit sie selbst und wie viel Vielfalt die Deutschen akzeptieren. Das zu beeinflussen ist auch für die CDU noch eine ganz große Aufgabe. Hier, mitten in Deutschland. Nicht irgendwo in Europa.

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