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Politik: Modell Türkei

Ankara sieht seine Rolle als Vorbild für die Region und als vermittelnde neue Supermacht gestärkt

Eine funktionierende Demokratie mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und religiös-konservativer Regierung; demokratische Reformen im Rahmen der EU-Kandidatur; ein seit Jahren anhaltender Wirtschaftsboom; Mitgliedschaften in Nato und G 20 – angesichts der Volksaufstände gegen die Diktaturen von Tunesien bis Jemen wirkt die Türkei wie ein leuchtendes Beispiel. Laut einer Umfrage sehen zwei von drei Menschen in Nahost das „Modell Türkei“ als Vorbild. „Die Türkei ist eine Erfolgsmarke geworden“, sagte der Ankaraner Politologe Mehmet Sahin dem Tagesspiegel. Trotz ihrer Defizite habe die türkische Demokratie Modellcharakter für die arabische Welt, sagt auch der angesehene Kolumnist Semih Idiz. Insbesondere die Bedeutung einer echten Volksvertretung sei eine lohnende Lehre für die Zukunft von Ländern wie Ägypten. Auch wirtschaftlich empfiehlt sich die Türkei: Das Pro-Kopf-Einkommen der Türken hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt.

All dies macht die Türkei für Sahin nicht nur zu einer regionalen Führungsmacht, sondern steigert auch die Bedeutung des Landes für den Westen: „In den vergangenen Jahren ist im Nahen Osten ein Vakuum entstanden, weil sowohl die verschiedenen Regime als auch die USA an Glaubwürdigkeit verloren“, sagte Sahin. „Nur zwei Staaten haben dieses Vakuum gefüllt: die Türkei und der Iran.“

Bei aller Skepsis gegenüber der islamisch verwurzelten Erdogan-Regierung ist die Türkei dem Westen aber wesentlich lieber als der Iran. Daraus ergibt sich laut Sahin eine einfache Logik: „Wer den Iran nicht stärken will, muss die Türkei stärken.“

Die USA folgen dieser Logik offenbar rascher und entschiedener als die Europäer. Als US-Präsident Barack Obama angesichts der Krise in Ägypten vor einigen Tagen die wichtigsten Politiker der Region telefonisch konsultierte, war auch Türken-Premier Erdogan unter denen, die einen Anruf aus dem Weißen Haus erhielten. Obama lobte ausdrücklich die „demokratischen Traditionen“ der Türkei und würdigte Erdogan als Politiker, der beachtliche Wahlerfolge errungen habe – der US-Präsident weiß, dass sich so etwas nicht von allen Staaten und Regierungschefs in der Region sagen lässt.

Solches Lob hört Erdogan gern. Und doch kann sich seine Regierung nicht ganz ihren Triumphgefühlen hingeben. Erst vor zwei Wochen erlitten die türkischen Regionalmachts-Ambitionen einen empfindlichen Rückschlag, als die internationalen Gespräche über das iranische Atomprogramm in Istanbul platzten. Außenminister Ahmet Davutoglu hatte gehofft, ein Erfolg in Istanbul werde das türkische Prestige weiter stärken. Doch die Gastgeber konnten das Scheitern der Verhandlungen nicht verhindern.

Auch angesichts der Lage in Tunesien, Ägypten und Jemen muss sich Davutoglus Ministerium jetzt einige Kritik gefallen lassen: Die Türkei sei von den Ereignissen in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel genauso überrascht worden wie Amerikaner und Europäer, merkte Kolumnist Semih Idiz an – obwohl die Türken immerzu betonen, wie gut sie sich mit dieser Weltgegend auskennen. „Vielleicht haben sie die Lage in der Region doch nicht so gut eingeschätzt, wie sie immer behaupten“, sagt Idiz.

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