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Was ist los, Puppe? Das Figurentheater Salz + Pfeffer tourt mit Molières "Eingebildetem Kranken".

© Berny Meyer, Theater Salz + Üfeffer

Morbus Google: Immer ist irgendwas

Der Zeitgeist hat sich gegen den eingebildeten Kranken entschieden, besonders das Internet setzt ihm zu. Doch wäre es falsch, Hypochondrie bloß als lächerlich abzutun.

Sie habe zugenommen, sagt die Verkäuferin an der Ladenkasse zur Stammkundin. „Ach ja“, sagt die, „sieht man gar nicht.“ Doch, sagt die Verkäuferin, sie habe das morgens auf der Waage geprüft. Dann lächelt sie und wünscht einen schönen Abend. Die Stammkundin grüßt zurück: „Schönen Abend ebenfalls.“

Ein harmloser Dialog? Smalltalk an der Kasse? Oder steckt mehr dahinter? Eine Botschaft? Die Ich-bin-gesund-Botschaft? Wer zunimmt, der hat keinen Krebs. Wer zunimmt, den fressen keine Zellen. So denkt jedenfalls der Hypochonder, zu denen die Stammkundin zählt. Sie beargwöhnt auch jene, die ständig betonen, dass es in ihrer Familie keine einzige Tumorerkrankung gebe. Aus solchen Worten spricht dem Hypochonder zufolge nichts als Feigheit. Kranksein ist ein Tabu. Der bloße Gedanke daran löst das Bedürfnis nach Abgrenzung aus. Harald Schmidt, der 2007 an einem Winterabend in seiner Late Night Show über jährliche Darmspiegelungen sprach, hat recht. Nur die aufrechten Hypochonder übertreiben. Die meisten bekennen sich nicht. Kein Wunder also, dass keine Statistik sagen kann, wie viele es gibt.

Er lebt in Angst vor einer tödlichen Krankheit

Herr B. (sein Name sei verschwiegen) gehört zu den bekennenden Hypochondern. Er erzählt ohne Scheu, wie jemand, der weiß, dass es lächerlich ist, sich etwas vorzumachen. Er habe drei, vier Symptome parallel. Am einfachsten erkläre er es am Husten.

Mit einem Mal Husten, sagt er, komme er gerade noch davon. Mag sein, das offene Fenster war schuld. Ein kleiner Hustenreiz, es muss nichts bedeuten. Schwierig wird es erst ab dem zweiten. Und dann kommt der dritte. Die Angst lässt ihn nach ihrer Pfeife tanzen. Sie droht mit Tod und Verderben. Sie weiß Bescheid über einen Lungentumor Stadium IV. Das Ziehen im Oberschenkel, das Herr B. seit Tagen verspürt, sei ein typisches Anzeichen für Knochenmetastasen. Wenn Herrn B. das Leben wenigstens noch ein paar Monate lieb sein sollte, dürfe er keine Sekunde verlieren. Er müsse alles medizinisch Nötige in die Wege leiten.

Seine einzige Waffe, ein Bonbon, das er in der Tasche bei sich trägt, hat versagt. Nach dem ersten Husten eingenommen, kann es ihn manchmal mit Glück vor dem dritten Husten retten. Es bleibt bei einer Erkältung, und Herr B., ein arbeitsunfähiger 58-jähriger Tenor und ehemaliger Opernchorsänger aus Thüringen, kann, statt in einem Wartezimmer um sein Leben zu bangen, mit Frau und Tochter zu Abend essen. Nützt das Bonbon jedoch nichts, zerfällt auch dieser Tag in die Bruchstücke eines Albtraums. Herr B. liegt unter der Guillotine seiner Angst. Und nur ein Arzt, glaubt er, kann ihn aus dieser Lage befreien.

Ein guter Arzt ist der, der 100-prozentige Sicherheit verspricht

„Zu 99 Prozent ist das nichts Böses.“ Eine solche Aussage allerdings genügt dazu nicht. Ein Hypochonder erstarrt vor Wahrscheinlichkeiten dieser Art. Sie sind ihm ein Abgrund, unendliche ein Prozent tief. Will der Arzt die Eskalation vermeiden, muss er so tun, als gäbe es absolute Sicherheit: „Das ist ohne jeden Zweifel völlig harmlos. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen das schriftlich.“ Solche Sätze lassen Herrn B. wieder atmen.

Einst, sagt er, hatte dieser Moment die Kraft, ihn mehrere Tage zu wärmen. Heute verbrauche sich die Freude nach befundfreien Röntgenbildern, nach tadellosen Sonografien, Magen- und Darmspiegelungen, Bluttests innerhalb eines halben Nachmittags. Ein Tumor benötigt ja nicht unbedingt einen Lungenflügel, um darin zu hausen. Er kann auch unter der Haut wuchern, am Zahnfleisch, wo er sich als „kleine Stelle“ tarnt, die Herrn B. partout keine Ruhe lässt.

Ein Außenstehender mag den Kopf darüber schütteln. Er mag lachen oder aus Mitleid weinen, wie das Leben dem Hypochonder durch die Finger rennt. Eventuell rechnet der Außenstehende die Kosten nach, die dem Gesundheitssystem aus einem Leben der Arztbesuche erwachsen. Oder es steigt Unwillen in ihm auf, wenn er hört, was Herr B. alles bereits vergeblich unternommen hat. Da wären Verhaltenstherapien, eine Psychoanalyse. Da wären Antidepressiva, Benzodiazepine. Entspannungstrainings und buddhistische Meditation. Phasenweise besucht Herr B. zwei Mal täglich den Arzt. „Glauben Sie mir“, sagt er, „ich würde mir ein Bein abnehmen lassen, wenn ich sie los wäre, die Angst vor der tödlichen Krankheit.“ Vor Jahren hat er versucht, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Geantwortet habe ihm niemand. Was ihn nicht wundere. „Für Hypochonder ist die Gruppe ein Risiko. Wir bringen uns auf Ideen.“ Das übernahm dann das Internet.

Der Hypochonder müsste die Dauerüberwachung lieben. Tut er aber nicht!

Was ist los, Puppe? Das Figurentheater Salz + Pfeffer tourt mit Molières "Eingebildetem Kranken".
Was ist los, Puppe? Das Figurentheater Salz + Pfeffer tourt mit Molières "Eingebildetem Kranken".

© Berny Meyer, Theater Salz + Üfeffer

Seit das Netz die Selbstdiagnose ermöglicht, hat der Hypochonder ein weites Feld zur Selbstkasteiung gefunden. Der Zeitgeist hat sich gegen ihn entschieden. Namentlich die digitale Revolution verhält sich grausam. Morbus Google heißt das Phänomen der reinen Verzweiflung. Jeder Kopfschmerz ist einen Klick vom Gehirntumor entfernt, jeder blaue Fleck, jede Nachmittagsmüdigkeit führt direkt in die Leukämie. Zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang auch über den heuchlerischen Eindruck der smarten digitalen Messgeräte, die ihren Träger ständig daran erinnern, wie sehr der eigene Kalorienumsatz, die Schlafqualität und das persönliche Bewegungsmuster zu wünschen übrig lassen.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, ein Hypochonder müsste mit der Rundumbewachung glänzend zu Rande kommen. Entspricht sie nicht seinem Sicherheitsbedürfnis, seinem Wunsch nach ständigem Schutz? Dazu ein winziges Beispiel, eingesammelt auf der diesjährigen Internationalen Funkausstellung in Berlin, wo ein sehr elegantes Blutzuckermessgerät von i-Health, der „Glucomètre BG 5“, zu sehen war. Er sei so schön, hieß es, dass man Lust auf Diabetes bekomme: „Si beau qu'il vous donne envie d'être diabétique“. Für einen Hypochonder ist das ein Schlag ins Gesicht.

Der Hypochonder vertraut weder seinem Körper, noch der Technik

Ebenso wie der dazugehörige Marschbefehl. „Stay connected with your health.“ Bleib in Verbindung mit deiner Gesundheit. Ein Hypochonder kann diesen Satz nicht lesen, ohne ihn für blanken Hohn zu halten. Er vertraut weder der Technik noch der Zukunft seines Körpers. Nachvollziehbar, warum Volker Hess, der Leiter des Instituts für die Geschichte der Medizin an der Charité, ihn als einen Außenseiter in einer zunehmend körperfixierten Gesellschaft versteht. „Der Hypochonder hat Angst davor, zu krank und schwach zu sein“, sagt der Historiker, wohingegen der narzisstisch geprägte Zeitgenosse eher von der Sorge verfolgt sei, „nicht gesund und fit genug zu sein“. Die Perspektiven widersprechen sich: Für das Quantified Self ist der eigene Zustand nichts als eine Etappe hin zum Erfolg. Am Ende lockt die Unsterblichkeit. Der Hypochonder dagegen schlurft am Rande seiner Vergänglichkeit entlang. Während sein Leiden selbst seit Jahrtausenden unvergänglich ist.

Es beginnt in der Antike, und zwar unter den Rippenbögen, in den Hypochondrien. Die Milz hat hier ihren Sitz, damit kommt gemäß der antiken Säftelehre die schwarze Galle ins Spiel. Der Hypochonder leidet diesbezüglich an einem Überschuss, der ihn grüblerisch und tiefsinnig macht. Er ist ein Melancholiker. Jedenfalls bis ins 17. Jahrhundert. Die Schweizer Psychiaterin Esther Fischer-Homberger hat den Austausch der Symptome zwischen Melancholie und Hypochondrie sehr genau beschrieben. Wichtig dabei ist, dass körperliche Beschwerden, darunter vor allem Verdauungsstörungen, von Anfang an mit psychischen Zuständen wie denen der Mutlosigkeit und der Lebensunlust verschmelzen.

Das "nervengläubige" 18. Jahrhundert liebte den Hypochonder

Ein Begriff für Hypochondrie selbst taucht erstmals beim Arzt und Anatom Galenos aus Pergamon auf. Sie ist die im Magen sitzende Melancholie, ein durch aufsteigenden Gallendunst hervorgerufenes, körperlich-seelisches Mischwesen, das der erstarkenden Wissenschaft später nicht mehr ins Konzept passt. Die Schwermut, die Ängstlichkeit werden nach Fischer-Homberger „diagnostisch heimatlos“ – bis sich das „nervengläubige“ 18. Jahrhundert begeistert zur Stelle meldet. Unter seinem Schutz erlebt die Hypochondrie eine „spektakuläre Blütezeit“. Sie ist die „Diagnose des Jahrhunderts“ und heißt die „Englische Krankheit“, Spleen und Vapeurs, wobei Letzteres auf die Blähungen anspielt, ohne die ein „hippischer“ Charakter nicht auskommt. Immanuel Kant nennt sie die „Grillenkrankheit“. Kant war neben dem später geborenen Charles Darwin und dessen brillant hypochondrischer Tochter Etty, die sich gegen Erkältungen ein mit antiseptischer Wolle gestopftes Küchensieb über das Gesicht zog und in diesem Aufzug politische Diskussionen führte, einer der berühmtesten Bronchial-Hypochonder der Geschichte. Die Grillenkrankheit selbst erklärte er mit der menschlichen Fähigkeit, Wahrnehmungen zu deuten und dadurch zu intensivieren. Aus flüchtigen Empfindungen lassen sich fixe Ideen machen, doch Obacht, man wäre auf dem Holzweg, die Hypochondrie als lächerliche Größe abzutun.

Der Abstieg der ehemaligen "Diagnose des Jahrhunderts"

Was ist los, Puppe? Das Figurentheater Salz + Pfeffer tourt mit Molières "Eingebildetem Kranken".
Was ist los, Puppe? Das Figurentheater Salz + Pfeffer tourt mit Molières "Eingebildetem Kranken".

© Berny Meyer, Theater Salz + Üfeffer

Im Gegenteil schätzt das 18. Jahrhundert die Selbstbeobachtung, das Leiden an der eigenen Sensibilität. Wie kaum eine andere Krankheit genießt die Hypochondrie soziales Prestige. Sie gehört den Gelehrten, den hochempfindsamen Seelen. Das späte 19. Jahrhundert wird diese Zuordnung zerstören. Mit dem Aufstieg der Nervenkrankheiten verliert die Hypochondrie an Attraktivität. Was ist ihr graues Sicherheitsbedürfnis im Vergleich zu den lebenshungrigen Auftritten etwa der Hysterie? Während Letztere dem Nervenarzt und Analytiker reiches Material zur Deutung bringt, buchstabiert der knöchrige Hypochonder das ABC seiner Körper-Angst. Sigmund Freud hat sich jedenfalls entsetzlich mit ihm gelangweilt. Der Hypochonder sei eine sexuell verklemmte, zur psychischen Symbolisierung unfähige Erscheinung, nicht zur Analyse bestimmt. Von Glück kann er sagen, dass man ihn überhaupt noch unter die Kranken zählt. Eine Störung hat er jetzt. Eine von den somatoformen, also irgendwie körperlich ausagierten neurotischen Störungen.

Hypochondrie ist offiziell als Krankheit anerkannt

ICD-10-GM-2014 F45,2 hält ein Plätzchen in der offiziellen WHO-Liste für ihn bereit. Dort sitzt er als arme Verwandtschaft zwischen dem Psychosomatiker, der tatsächlich körperliche Schmerzen entwickelt, und dem Angst- und Panikpatienten. Seine Symptomatik, heißt es, erfordere in den meisten Fällen eine zusätzliche Diagnose. Mit anderen Worten: Hypochondersein allein genügt nicht. Alexander Mitscherlich schrieb über die Krankheit als „historisches Gebilde“, die aus der sozialen Matrix der Erwartungen wächst. Die Hypochondrie ist also kein Teil dieser Matrix mehr. Sie ist aufgegangen in den Befindlichkeitsstörungen, den Missempfindungen im Schatten der Depression. Ob sich hinter seiner Angst nicht in Wahrheit etwas anderes verberge, fragt der Arzt, der es gut mit dem Hypochonder meint.

Der Psychiater Andreas Ströhle etwa würde auf der Frage nach der Depression bestehen. Er würde sich die Beschwerden des Hypochonders freundlich anhören und leise und bestimmt erwidern, dass es keinen anderen Weg gebe, als zu lernen, mit der „Restunsicherheit“ zu leben. Ja, auch ein Hypochonder kann an Krebs erkranken. So unfassbar traurig das den Hypochonder auch machen mag. Er müsse sich konfrontieren, am sinnvollsten im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie. Herr B. will am Telefon nichts davon wissen. Wie er sich denn konfrontieren solle? Wie er denn die Monate aushalten solle, die er abwarten müsse, ob sein Husten schlimmer wird?

Eben noch gesund, jetzt tot. Wie kann das sein?

Als Kind hörte er seinen Vater über einen an Krebs gestorbenen Bekannten sprechen. Es war ein Satz beim Abendbrot. „Aber war er doch immer ganz gesund.“ Das Kind erschrak zu Tode. Wie konnte das sein? Jemand ist gesund und gleich danach tot. Wer war dann noch sicher? Der Gedanke war ein Schock: „Niemand.“

Aus dem Mund der Forschung hört sich der Zusammenhang trocken an. Man gehe, sagt Andreas Ströhle, inzwischen wie bei allen psychischen Störungen auch bei der hypochondrischen von einer neurobiologischen Beteiligung aus. Menschen können eine erhöhte „Vulnerabilität“ mitbringen. Oft kippe die ängstliche Grundstimmung in der Pubertät. Der eigene Körper verändert sich. Der eigene Körper wird sterblich.

Herr B. glaubt, es müsse ein Mensch reichlich dickfellig sein, damit ihn der Krebs nicht um den Verstand bringe. Er selbst hat einen befreundeten Mathematiker damit beauftragt, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Er könne jetzt einfach mit der Angst aufhören, sagt er. Er hätte sich dann 30 Jahre vergeblich Sorgen gemacht. Auch die Freude, die ständige Sorge und Anspannung, sie wären vergeblich gewesen. Aber wer sagt ihm denn, dass die Krankheit nicht nur darauf wartet, dass er lässig wird? Wer verspricht ihm, dass sie nicht gerade in dieses Vertrauen hineinschlägt? Er wäre genau im entscheidenden Augenblick unachtsam gewesen. Also erwidert er das Winken nicht. „Das ist das Schreckliche“, sagt er, „dass ich weiß, wie wunderbar das Leben in Wahrheit sein kann.“ Es ist ein alter, melancholischer Gedanke. Er handelt vom Schmerz der Vergänglichkeit. Von der Unerfüllbarkeit der Sehnsucht. Herr B., der Hypochonder, trägt ihn auf seine kleine, feige, menschliche Weise mit sich herum. Sein alter Hund läuft dazu neben ihm her. Herr B. liebt den Hund. Und er hat Angst vor ihm. Genauer gesagt hat er Angst vor der Tollwut, die der Hund haben könnte. „Ja, ja, ich weiß“, sagt Herr B. schnell, „es gibt gar keine Tollwut im Moment.“ Er lacht auf. Kurz nur.

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